“Nationaler Sicherheitsrat – Stand der politischen Diskussion” – RK West am 18.10.2021

Frau Fregattenkapitän d. Res. Dipl.-Pol. Christina Maria Moritz

Das im Grundgesetz verankerte Ressortprinzip, nach dem der jeweilige Bundesminister seinen Geschäftsbereich im Rahmen der durch den Bundeskanzler vorgegebenen Richtlinien selbstständig und unter eigener Verantwortung leitet, stößt bei komplexen politischen Fragen häufig an seine Grenzen. Dies gilt insbesondere in der Sicherheitspolitik. Zur Koordinierung zwischen den betroffenen Ressorts wurde daher der Bundessicherheitsrat (BSR) als Kabinettsausschuss etabliert. Er verfügt jedoch über keinen eigenen Unterbau; sein Sekretariat wird quasi in Nebenfunktion von der Gruppe 23 im Bundeskanzleramt wahrgenommen.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass diese Konstruktion bei der Koordination der Ressorts, insbesondere beim Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, an ihre Grenzen stieß. Der vernetzte Ansatz, mit dem alle zivilen und militärischen Aktivitäten auf das gemeinsame Ziel der Stabilisierung des Landes hin abgestimmt werden sollten, funktionierte wegen unzureichender Zusammenarbeit zwischen den Ressorts, oft auch wegen Eitelkeiten und Berührungsängsten, anfangs schlecht, später allenfalls mäßig. Eine gemeinsame Strategie für den Einsatz, die diesen Namen verdient hätte, existierte zu keiner Zeit.

Um dieses offenkundige Defizit zu beseitigen, kam daher sporadisch die Idee zu einem Nationalen Sicherheitsrat mit einem geeigneten Unterbau auf, wie er in vielen anderen Ländern bereits existiert. Bisher sind allerdings alle Überlegungen in dieser Richtung gescheitert. Die jüngsten Ereignisse beim Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und des Debakels bei der Evakuierung von sogenannten Afghanischen Ortskräften der Bundeswehr haben jedoch die Notwendigkeit einer verbesserten gemeinsamen Analyse- und Entscheidungsfähigkeit erneut deutlich gemacht.

Die Referentin des Abends, Frau Fregattenkapitän d. Res. Dipl.-Pol. Christina Maria Moritz, hat sich seit 2004 mit der Frage eines Nationalen Sicherheitsrats (NSR) befasst, sich in vielen Publikationen dazu geäußert und ihre Überlegungen auch im politischen Raum eingebracht. Den aktuellen Stand der politischen Diskussion kurz nach der Bundestagswahl hat sie nun für den RK WEST aufbereitet.
Angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit einer Ampel-Koalition hielt sie allerdings die Möglichkeit zu Fortschritten bei der Realisierung eines NSR in Deutschland in dieser Legislaturperiode für eher gering. In den Papieren zur Vorbereitung der Koalitionsverhandlungen sei zwar die Forderung nach einer Nationalen Sicherheitsstrategie aufgeführt, nicht jedoch die Institution eines NSR. Die Grundüberlegungen, die für einen NSR sprächen, würden dadurch jedoch nicht berührt. Gerade die jüngsten krisenhaften Ereignisse, wie die Corona-Pandemie, das Hochwasser an der Ahr, aber auch die Evakuierung der afghanischen Ortskräfte, hätten gezeigt, dass das Regierungshandeln mit einem etablierten und eingespielten NSR leichter zu koordinieren gewesen wäre. Es sei daher wichtig, das Thema weiter auf der Tagesordnung zu halten.

Einführend wies Frau Moritz darauf hin, dass es weltweit 58 Staaten mit einem NSR gebe, wobei die Staatsform ohne Belang sei. Die Funktion sei überall ähnlich: Zentrale Steuerung von Sicherheit, zentrale Steuerung operativer Maßnahmen und strategische Vorausschau.
Die Anforderungen an ein koordiniertes Regierungshandeln würden durch ein zunehmend komplexes Bedrohungsszenario bestimmt. Es umfasse neben herkömmlichen bewaffneten Konflikten u.a. hybride Bedrohungen, Cyberangriffe, Desinformationskampagnen, das Macht- und Expansionsstreben Chinas, den internationalen Terrorismus, aber auch den Klimawandel und Pandemien wie Covid-19.
Bei der Inneren Lage gebe es eine Vielzahl von Lagezentren und Abstimmungsrunden, die mehr oder weniger gut funktionierten, aber jedenfalls nicht ausreichend vernetzt seien. Die Abstimmung sei daher oftmals zeitaufwändig, nicht effektiv genug und einem Land wie Deutschland, das in der Welt als besonders gut organisiert gilt, nicht angemessen. In der Corona-Pandemie habe sich z.B. gezeigt, dass insbesondere die Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern auf den Prüfstand gehöre. Und auch beim Informationsfluss zwischen Sicherheitsbehörden gebe es gesetzlichen Anpassungsbedarf.

Die Folgen institutioneller Defizite seien jedenfalls unübersehbar. Es mangele an einem umfassenden Lagebild mit entsprechenden Auswirkungen auf die Analysefähigkeit. Die Kompetenzverteilung verlangsame Entscheidungsprozesse und schwäche die Handlungsfähigkeit Deutschlands national und international. Ein NSR solle die Befähigung schaffen, über das Tagesgeschäft hinaus, strategisch vorauszuschauen. Der BSR – zumindest in der derzeitigen Form, als ad hoc tagender Kabinettsausschuss nahezu ohne Unterbau – sei dazu nicht in der Lage.

Ein NSR müsste organisatorisch im Bundeskanzleramt angesiedelt sein – im Rahmen eines Kabinettsausschusses mit regelmäßigen Sitzungen und mit einem Nationalen Sicherheitsberater an der Spitze auf gleicher Ebene wie der Geheimdienstkoordinator oder Chef des Kanzleramtes. Er bedürfe eines angemessenen Unterbaus in Form eines Sekretariats und mit Verbindungsbeamten der Ressorts. Darüber hinaus wäre eine externe Analyseeinheit hilfreich, in der kontinuierlich alle zivilen und militärischen Informationen gebündelt, ausgewertet und vernetzt würden. Für spezielle Fragestellungen und aktuelle Krisen könnten – auch unter Hinzuziehen von externen Experten – Cluster gebildet werden. Ein überdimensionierter bürokratischer Apparat sei verzichtbar.

In akuten Krisenlagen könne der NSR als Krisenstab eingesetzt werden, der dann über Durchgriffsrechte verfügen müsse, ohne dass damit staatliche Grundlagen wie das Ressortprinzip oder das Föderalismusprinzip aufgehoben würden.
Die Referentin zeigte an mehreren aktuellen Beispielen auf, wie die Qualität von Entscheidungen in Krisenlagen durch einen NSR hätte verbessert werden können. Als Resümee fasste sie noch einmal die Vorteile einer neuen Sicherheitsinstitution NSR zusammen und stellte fest, dass die Zeit eigentlich reif sei, eine solche Institution in Deutschland einzuführen.

An die klar gegliederten, graphisch gut unterlegten und mit großer Überzeugung vorgetragenen Ausführungen der Referentin schloss sich eine intensive Aussprache an. Darin wurden u.a. die Fragen vertieft, in welcher Form und wie schnell die skizzierte Institution aufwachsen könne, welche Anforderungen an das dort eingesetzte Personal zu stellen seien und wo bislang die hauptsächlichen Widerstände gegen die Einrichtung eines NSR gelegen hätten. Insgesamt zeigte sich das Auditorium von der Sinnhaftigkeit eines deutschen NSR überzeugt, hielt es aber für sehr unwahrscheinlich, dass ein solches Projekt in der gegenwärtigen politischen Landschaft umgesetzt werden könne. Es blieb die Hoffnung, dass die neue Koalitionsregierung zumindest die Rolle des BSR stärken werde.
Leider konnte auch dieser Vortrag nur als reine Online-Veranstaltung stattfinden.

Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.