Japans neue Militärstrategie – Vortrag Dr. Corff vor RK Nord am 18.06.2019

Das Jahr 2019 bietet eine gute Gelegenheit für einen näheren Blick auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Japans. Sowohl das oberste Planungsdokument der japanischen Verteidigung, die „Rahmenplanung der Verteidigung“, als auch das daraus abgeleitete Planungsdokument der „Mittelfristigen Verteidigungsplanung“ sind 2019 neu vorgelegt worden; gleichzeitig fand ein Wechsel an der Spitze des japanischen Herrscherhauses statt: Kaiser Akihito (Regierungsdevise Heisei) dankte zum 30. April ab, und Kaiser Naruhito (Regierungsdevise Reiwa) wurde am folgenden Tag inthronisiert. Gleichzeitig steht Japan aktuell als Gastgeber des G20-Gipfels vermehrt im Blickpunkt der Weltpolitik.

Japan ist einer der größten Inselstaaten der Erde, eine führende Industrienation und als rohstoffarme Handelsnation auf freie Seewege angewiesen. Nach der Kapitulation Japans am Ende des II. Weltkrieges hat sich das Land mit der Annahme einer neuen Verfassung am 3. Mai 1947 zu einer pazifistischen Grundhaltung entschieden und verbietet sich in Artikel 9 der Verfassung den Einsatz von Streitkräften zur Durchsetzung seiner politischen Interessen. Gleichzeitig verpflichtet sich Japan zur aktiven Mitwirkung an der Gestaltung der internationalen Ordnung (siehe Präambel der Verfassung). In diesem Spannungsfeld stützt sich die Sicherheitspolitik Japans auf drei Säulen: eine aktive Diplomatie, die 1955 neu gegründeten Selbstverteidigungsstreitkräfte (ji’eitai, Self Defense Forces, SDF) sowie eine umfassende Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Der Auftrag der SDF ist streng defensiv ausgerichtet und enthält neben der eigentlichen Landesverteidigung noch eine starke Komponente der Katastrophenhilfe im Innern; aufgrund häufiger Naturkatastrophen bestimmt dies maßgeblich die Wahrnehmung der SDF in den Augen der japanischen Öffentlichkeit. Die Sicherheitsallianz mit den USA ist rein bilateral angelegt, aber in Geist und Wortlaut des Vertragstextes durchaus mit dem NATO-Vertrag vergleichbar. Obwohl die USA in der Region weitere bilaterale Allianzen unterhalten (z.B. mit Südkorea), so ist aus diesen parallelen bilateralen Bündnissen bis jetzt noch kein multilateral organisiertes System kollektiver Sicherheit entstanden.

Bereits im Jahr 1992 nahmen Kräfte der SDF zum ersten Mal an internationalen Einsätzen der Vereinten Nationen teil, darüber hinaus leisten sie weltweit humanitäre Hilfe (z.B. bei Naturkatastrophen) und Aufbauhilfe (“capacity building”). 2015 wurde nach längerer, in scharfem Ton geführter politischer Diskussion um die pazifistische Grundausrichtung der Politik und der Selbstverteidigungsstreitkräfte, eine neue Sicherheitsgesetzgebung verabschiedet (“PKO-Gesetz”), die u. a. den möglichen Umfang kollektiver Selbstverteidigung im Einsatzland neu definierte und nun gestattet, einem Verbündeten zu Hilfe zu eilen (kaketsuke keigo).

Die sicherheitspolitische Perzeption Japans wird wesentlich von China, darüber hinaus von Nordkorea und zu einem kleineren Teil auch von Russland bestimmt. Die Vereinnahmung des Südchinesischen Meeres durch die VR China, die Intransparenz von Verteidigungshaushalt und Militärstrategie sowie die rasche Zunahme technologischer Fähigkeiten in Verbindung mit Chinas enorm gewachsener Wirtschaftsmacht werden vor dem Hintergrund bestehender Territorialstreitigkeiten um die Senkaku-Inseln (chin. Diaoyu-Inseln) als größte Bedrohung eingestuft. Darüber hinaus sind die Beziehungen zwischen China und Japan historisch belastet; bis heute gibt es keinen der deutschen Vergangenheitsbewältigung vergleichbaren Umgang mit der Geschichte.

Ein besonderes, komplexes und vielschichtiges Spannungsverhältnis besteht mit Nordkorea. Die koreanische Halbinsel war von 1910 bis 1945 japanische Kolonie. Die koreanische Teilung ist bis heute das letzte große Relikt der Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges. Nordkorea behauptet seine Stellung, die es ganz wesentlich im Kriegszustand mit den USA und Südkorea verortet, durch ein umfangreiches Raketenprogramm sowie ein über Jahrzehnte beharrlich verfolgtes Kernwaffenprogramm. Mehrfach haben nordkoreanische Flugkörper bereits die japanischen Hauptinseln überquert. Eine schnell reaktionsfähige und wirksame Raketenabwehr ist daher einer der Investitionsschwerpunkte der aktuellen Verteidigungsplanung Japans.

Die Bedrohung durch Russland wird in der Untergrabung der internationalen Ordnung gesehen. Auch hier kommen ungelöste Territorialstreitigkeiten um die südlichsten Inseln der Kurilen hinzu.

Die wichtigsten Beobachtungen aus japanischer Sicht sind, dass zwar die Interdependenzen in der Region und weltweit zunehmen, es aber dennoch nicht zu einer Verbesserung der Sicherheitssituation kommt. Gleichzeitig verschiebt der Aufwuchs neuer Kräfte die bisherige Machtbalance nachhaltig, und neue Unsicherheiten und Instabilitäten verkomplizieren die Lage weiter. Hier darf z.B. auf den Austritt der USA aus der Transpazifischen Partnerschaft TPP verwiesen werden; auch hat US-Präsident Trump die militärische Allianz mit Japan in der jüngeren Vergangenheit wiederholt als “unfair” bezeichnet, ohne allerdings konkrete Kritikpunkte zu präzisieren. Im Gegensatz zu den Streitigkeiten über den nationalen Verteidigungsbeitrag im Rahmen der NATO (“2-Prozent-Ziel”) wird der konstant niedrige Verteidigungshaushalt Japans (0,97% des BIP) bis jetzt nicht öffentlich diskutiert. Das Resümee ist, dass die bisherige Sicherheitslage nicht mehr linear fortschreibbar ist, sondern einer qualitativ anderen Verteidigungspolitik bedarf.

Als wesentliche Schlussfolgerungen für die Landesverteidigung hat Japan daher festgestellt, dass es auf eine glaubwürdige Abschreckung, eine rasche Reaktionsfähigkeit und eine vernetzte Führungsfähigkeit angewiesen ist, die idealerweise in allen traditionellen und neuartigen Operationsräumen (“cross-domain”) gleichermaßen robust und überzeugend realisiert wird. In der aktuellen Verteidigungsplanung wird daher ein Schwerpunkt auf den querschnittlichen Erwerb neuer Fähigkeiten gelegt. Insbesondere sollen der Weltraum, der Cyberraum und das komplette elektromagnetische Spektrum abgedeckt werden. Als langjährige und hochentwickelte Weltraumnation hat Japan zwar ohnehin schützenswerte Interessen im Weltraum, aber die kürzlich erfolgte Gründung einer Weltraumtruppe muss auch als Reaktion auf den Fähigkeitsaufwuchs der VR China im Weltraum gesehen werden.

Der zweite große Schwerpunkt wird auf die Stärkung existierender Fähigkeiten gelegt. In den Maritimen Selbstverteidigungsstreitkräften beispielsweise betrifft dies u.a. die Kampfwertsteigerung der Helikopter-Zerstörer der IZUMO-Klasse zu faktischen Flugzeugträgern (beschafft wird die F-35B, eine Variante der F-35A mit STOVL-Fähigkeit) und schwimmenden vernetzten Operationszentralen, die Modernisierung der Seeaufklärung und der U-Boot-Jagd, die Beschaffung von Abstandswaffen (JASSM).

Für die Abwehr ballistischer Raketen werden die bestehenden Aegis-Systeme um zwei landbasierte Systeme (Aegis Ashore) erweitert, die in der aktuellen Haushaltsplanung mit jeweils ca. 10 Mia. Euro den größten Einzelposten bilden.

Um in einem Szenario der Rückeroberung entfernter Inseln durchhaltefähig zu sein, werden außerdem die taktischen und strategischen Lufttransportkapazitäten vergrößert.

Die Luftselbstverteidigungsstreitkräfte stellen großflächig auf das moderne Kampfflugzeug F-35 um. Die im Dezember 2018 bekanntgewordene Aufstockung von ursprünglich 45 Stück auf nunmehr 147 Stück (darin enthalten: 42 Stück F-35B in der STOVL-Variante) verbessert die Interoperabilität mit den US-Streitkräften, vereinfacht die Wartung und senkt die anteiligen Systemkosten pro Flugstunde; auf dem Weg dieser Entscheidung hat Japan die Entwicklung eines eigenen Kampfflugzeuges der 5. Generation (“Future Fighter Program”) eingestellt.

Parallel zu dieser Modernisierung der Rüstung unternimmt Japan zahlreiche systematische Anstrengungen zur strukturellen Steigerung der Verteidigungsfähigkeiten. Insbesondere betrifft dies die Stärkung der nationalen Technologiebasis (der allergrößte Teil japanischer Rüstungsgüter wird von der heimischen Industrie (teilweise in Lizenz) gefertigt, nur wenig wird importiert) und die Optimierung des Beschaffungswesens im Hinblick auf die möglichen Auswirkungen auf die nationale Industrie und Wirtschaft. Außerdem wird der Sanitätsdienst reformiert: Neben einer erstklassigen Versorgung der Angehörigen der SDF bildet insbesondere – mit Deutschland gut vergleichbar – der optimierte Verbund militärischer und ziviler Krankenhäuser einen Schwerpunkt.

In der Diplomatie werden vielfältige Bemühungen zur Bildung von Sicherheitspartnerschaften mit Indien, Australien und anderen Ländern unternommen, die sich der Verteidigung einer regelbasierten internationalen Ordnung verpflichtet fühlen. Darüber hinaus wird die Integration mit den US-Streitkräften weiter vertieft.

Die Sicherheit Japans ruht somit auf mehreren Säulen: Diplomatie mit dem Schwerpunkt auf “rule of law”, den Selbstverteidigungsstreitkräften und der Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Angesichts einer gewandelten Bedrohungsperzeption setzt Japan auf eine glaubwürdige und robuste Abschreckung, die konventionelle wie neue Dimensionen der Kampfführung einbezieht. Hervorzuheben ist besonders, dass die militärische Verteidigungsfähigkeit in einen umfassenden zivil-militärischen Kontext eingebunden ist, der die Katastrophenhilfe ebenso berücksichtigt wie die nationale Industrie, Wirtschaft und Wissenschaft.

Oliver Corff

Juni 2019