Ethische Perspektiven militärischer Operationen – RK WEST am 13.03.2023

Die russische Aggression gegen die Ukraine an sich war bereits ein Schock für die westliche Welt. Er wurde durch die brutale Art der Kriegführung mit gravierenden Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht noch übertroffen, obwohl das frühere Verhalten russischer Truppen, z. B. im zweiten Tschetschenienkrieg und in Syrien, eigentlich von Beginn an schlimmste Befürchtungen hätte wecken müssen. Dennoch konnte sich kaum jemand vorstellen, dass ein solches Vorgehen auch im Europa des 21. Jahrhunderts gegen ein „Brudervolk“ praktiziert werden würde. So war das Ausmaß an Kriegsverbrechen in diesem Konflikt für die überwiegende Mehrheit der Menschen in Westeuropa zuvor unvorstellbar. Die rechtliche Seite bei der Feststellung und der nicht einfachen Verfolgung solcher Verbrechen wurde im Oktober des vergangenen Jahres im RK WEST behandelt.

Vor diesem Hintergrund schien es geboten, unabhängig vom aktuellen Geschehen in der Ukraine die „Ethischen Perspektiven militärischer Operationen“ einmal näher zu beleuchten. Dazu hat Generalmajor a.D. Dr. Dr. Dieter Budde im RK WEST vorgetragen, der nicht nur als höherer Truppenführer mit dieser Thematik konfrontiert war, sondern sich auch intensiv wissenschaftlich damit befasst hat.

Wie der Referent eingangs ausführte, geht es im Kern darum, wie Handlungen von Soldaten unter ethischen Theorien auf ihre Moralität bewertet werden können. Dies ist eine philosophische Kategorie, keine des Rechts. Zwar sind viele ethische Grundsätze in das kodifizierte Recht eingeflossen, die ethische Fragestellung geht aber darüber hinaus. So kann u.U. ein rechtlich erlaubtes (legales) Handeln unter ethischen Gesichtspunkten durchaus einen Verstoß gegen ethische Prinzipien darstellen und umgekehrt ein eigentlich rechtlich nicht erlaubtes Handeln ethisch vertretbar(legitim) sein.

Ethische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Kriegführung haben schon im Mittelalter eine Rolle gespielt. Dabei ging es unter dem Begriff „gerechter Krieg“ in erster Linie darum, Gewalt einzugrenzen und Willkür einzuhegen – sowohl, was den Beginn eines Krieges betrifft (jus ad bellum) als auch innerhalb bewaffneter Auseinandersetzungen (jus in bellum). Diese Bestrebungen hatten das Ziel, die Tötung von Nichtkombattanten und Unschuldigen zu vermeiden und die Gewalt einzuhegen, d.h. in bewaffneten Konflikten keine unverhältnismäßigen Mittel einzusetzen. Daraus ergibt sich die Forderung, im Hinblick auf die Proportionalität militärischen Handelns stets zu prüfen, ob es sich um ein legitimes Ziel handelt und die jeweilige Maßnahme geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen, sowie das Abwägen mit zu schützenden Rechten.

Bei der ethischen Bewertung soldatischen Handelns ist allerdings zu bedenken, dass militärische Entscheidungen in aller Regel unter Risiko und Unsicherheit zu treffen sind. Dies entbindet jedoch nicht von der Verantwortung, die jeder Mensch als vernunftbegabtes Wesen mit eigenem Willen für sein Handeln und seine Entscheidungen hat. Dabei sind die Kernelemente moralischen Handelns: Freiheit, Vernunft, Autonomie, Wille und Zurechnungsfähigkeit.

Der Soldat trägt dabei Verantwortung nicht nur gegenüber dem politischen System, der Gesellschaft, seinen Mitmenschen, Vorgesetzten, den anvertrauten Soldaten und deren Angehörigen, sondern auch vor sich selbst. Ein militärischer Befehlshaber kann darüber hinaus auch für Taten Untergebener zur Verantwortung gezogen werden.
Selbst der im allgemeinen Sprachgebrauch recht eindeutig erscheinende Begriff der Verantwortung stellt sich in der Ethik differenzierter dar. Sie unterscheidet drei unterschiedliche Arten von Verantwortung: Die apodiktische (auch kategorische), die wie bei Kants kategorischem Imperativ von universalen moralischen Gründen ausgeht, die assertorische, die auf gesetzliche oder politische Regeln abhebt, sowie die problematische, die auf Vereinbarungen im Rahmen einer Kultur beruht.

Wer also zu Beginn des Vortrags gehofft hatte, mithilfe der Ethik klare allgemein anerkannte Kriterien für moralisch einwandfreies soldatisches Handeln zu erhalten, musste sich eines Besseren belehren lassen. Die Ethik kann (natürlich) kein einheitliches, allumfassendes und allgemein akzeptiertes Gedankengebäude bereitstellen, nach denen die Moralität des Handelns bewertet werden kann, sondern hat kulturell, geschichtlich und religiös unterschiedlich geprägte Methoden und Theorien entwickelt. Die wichtigsten davon stellte der Referent in einem rasanten Lauf durch die komplexe philosophische Ideenwelt vor. Vereinfacht dargestellt lassen sich drei Betrachtungsweisen unterscheiden:

Die deontologische Ethik (Pflichtethik) bemisst den moralischen Wert einer Handlung nicht nach ihren Konsequenzen, sondern danach, ob diese einer festen allgemeingültigen Regel entspricht. Handlungen werden ihrer Natur nach (intrinsisch) als gut oder schlecht betrachtet. Weil die Konsequenzen des Handelns ausgeblendet werden, ist die deontologische Ethik allerdings in manchen Situationen schwer operationalisierbar.

Der Konsequenzialismus dagegen stellt den Zweck des Handelns in den Vordergrund und fordert die positiven Folgen des Handelns zu maximieren, dabei negative Folgen nach Möglichkeit zu vermeiden – in überspitzter Form: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ In der Spielart des Utilitarismus ist der Gesamtnutzen einer Handlung entscheidend für deren Bewertung. Dabei unterliegt natürlich auch die Einschätzung des Nutzens oder Schadens durchaus unterschiedlichen Kriterien.

Die Tugendethik wurde ursprünglich von Platon und Aristoteles geprägt und später von Thomas von Aquin aufgegriffen und unter christlichen Vorzeichen weiterentwickelt. Sie fordert – wie es der Name bereits ausdrückt – die ethische Orientierung an Tugenden, wie z.B. den Kardinaltugenden Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Allerdings sind auch Tugenden nicht universal, sondern durch Kultur und Gesellschaft geprägt. Dies gilt auch für Militärkulturen, in denen durchaus unterschiedliche Wertekanons existieren.

In einem Abstecher ging der Referent auf die ethischen Implikationen Künstlicher Intelligenz im militärischen Bereich, beim Einsatz teil- oder vollautomatisierter Waffensysteme und im Cyberwar ein. Auf der Grundlage unseres Rechtsverständnisses seien derzeit nur teilautonome Systeme zulässig, deren Einsatz verantwortlich, vernünftig, rückverfolgbar, zuverlässig und beherrschbar sein müsse. Ob die Bewertung hinsichtlich autonomer Systeme in ferner Zukunft so bleibe, sei unsicher. Auch im Bereich des Cyberwar müssten im Grundsatz die gleichen ethischen Kriterien wie bei herkömmlichen Einsätzen zu Grunde gelegt werden. Wer einen Cyberangriff anordne, müsse dessen Konsequenzen ethisch verantworten können.

Die Anwendung der unterschiedlichen ethischen Theorien in der militärischen Praxis – noch dazu, wenn Entscheidungen im Gefecht unter hohem Zeitdruck zu treffen seien – erscheine auf den ersten Blick schwierig. Wenn jedoch bei den handelnden Personen ein ethisches Gerüst vorliege bzw. vermittelt worden sei, könne es auch im konkreten Einzelfall zur Anwendung kommen. Hilfreich dazu seien einige Prüffragen, die zur Bewertung des Handelns gestellt werden könnten:

  • Welchen vorgegebenen Regeln unterliegt mein Handeln?
  • Sind diese Regeln konsistent oder widersprüchlich?
  • Sind sie auf die konkrete Lage überhaupt anwendbar?
  • Welche Folgen können die Entscheidungen oder beabsichtigten Handlungen haben?
  • Ist eine Proportionalität von Zielen der Operationsführung und den einzusetzenden Mitteln gegeben?
  • Werden Menschenwürde und Menschenrechte beachtet?
  • Werden Nichtkombattanten und Unschuldige geschont?
  • Wird der beabsichtigte Schutz von Menschen erreicht?
  • Werden soldatische Profession und soldatisches Ethos beachtet?

Diese Fragen, die vor allem Elemente des Regelutilitarismus und der Tugendethik abbilden, seien weitgehend bereits durch rechtliche Regeln und vorgegebene Rules of Engagement abgedeckt, so dass die Anwendung für die Operationsführung vermittelbar sein sollte.

In der anschließenden ausführlichen Aussprache wurden im Wesentlichen vier Fragen adressiert:
1. Inwieweit ethische Grundlagen in der militärischen Ausbildung vermittelt und in der militärischen Praxis umgesetzt werden könnten,
2. inwieweit die internationale Staatengemeinschaft in der Lage sei, das Verbot des Angriffskrieges und die Regeln des Kriegsvölkerrechts angesichts der zunehmenden Zahl autoritär regierter Staaten in der Realität durchzusetzen,
3. wie die Frage moralischen Handelns im Fall sich widersprechender Werte zu behandeln sei und
4. ob die bisherige offizielle (ablehnende) Haltung zum Einsatz autonomer Waffensysteme tatsächlich berechtigt sei und sich künftig aufrechterhalten lasse.

Der intellektuell anspruchsvolle Vortrag vermittelte den Teilnehmern ein facettenreiches Bild darüber, wie ethische Aspekte in die militärische Operationsführung einfließen können und sollen.

Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.