„Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland im Ersten Weltkrieg“ – RK West am 16.01.2023

Oberst a.D. Dr. Michael Vollert

Der seit nahezu einem Jahr andauernde Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wirkt sich wirtschaftlich nicht allein auf die kriegführenden Parteien aus. Durch die Vereinigten Staaten von Amerika, die Europäische Union und andere internationale Organisationen und Einzelstaaten wurden massive Sanktionen gegen den Aggressor Russland verhängt. Westliche Firmen haben ihre Geschäftstätigkeit in Russland einge-stellt oder zumindest reduziert, Öl- und Gasexporte Russlands wurden weitestgehend limitiert, mit der Folge, dass die unterbrochenen Importe dieser fossilen Energieträger u.a. in Deutschland zu einer Energiekrise mit exorbitanten Preissteigerungen führten, die bis heute die gesamte Wirtschaft in erheblichem Ausmaß tangieren.

Dass Kriege schon immer nicht allein auf den Schlachtfeldern oder Meeren entschieden wurden, sondern Sieg oder Niederlage stets auch Folge der Entwicklung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft waren, erläuterte freundlicherweise unser Mitglied Oberst a.D. Dr. phil. Michael P. Vollert am Beispiel der Situation im Ersten Weltkrieg. Als Historiker ist Herr Dr. Vollert ein ausgewiesener Kenner der Zeitgeschichte vom zu Ende gehenden Kaiserreich bis zum Dritten Reich; zum wiederholten Mal durfte der RK West im ersten Vortrag des Jahres auf seine Expertise zurückgreifen. Im Mittelpunkt der Geschichtsschreibung der Epoche von 1914 bis 1918 stehen bis heute vor allem die militärischen Ereignisse. Die Darstellung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft tritt zumeist dahinter zurück. In seinem Vortrag nahm der Referent daher deren Auswirkungen und gegenseitige Abhängigkeit auf Verlauf und Ergebnis des Ersten Weltkriegs in den Blick.

Während des Ersten Weltkriegs war das deutsche Staatsgebiet, abgesehen von der kurzzeitigen Besetzung einiger Teile Ostpreußens durch russische Truppen im August 1914, zu keiner Zeit Schauplatz von Kampfhandlungen. Der Krieg war bis zu seinem Ende für die deutsche Bevölkerung zumindest geografisch weit entfernt. Zwischen Innen- und Außenfront verlief bis 1918 in mehrfacher Hinsicht eine Grenze. Im Gegensatz dazu wurde bekanntlich im Zweiten Weltkrieg zusätzlich zu den Bombenangriffen der Alliierten ab Oktober 1944 das gesamte deutsche Staatsgebiet nach und nach Kriegsschauplatz mit verheerenden Folgen.

Mit der Verkündigung des „Zustands der drohenden Kriegsgefahr“ und der Verhängung des Belagerungszustandes über das gesamte Reichsgebiet am 31.07.1914 wurden in den nächsten vier Jahren wesentliche bürgerliche Rechte und Freiheiten erheblich eingeschränkt. Dies veränderte den Alltag der Menschen in Deutschland nachhaltig, weil mit der Verhängung des Belagerungszustandes die gesamte „Voll-ziehende Gewalt“, also die Exekutive, von den Reichs-, Landes- und Kommunal-behörden auf die 24 Stellvertretenden Generalkommandos überging. Damit wurden diese im Reichsgebiet für die öffentliche Sicherheit, die Zensur, für die Kontrolle der Parteien und Vereine sowie weitere Aufgaben zuständig, während die aktiven Generalkommandos an den Fronten im Einsatz waren.

So wurden die Kommunalverwaltungen – und nicht nur diese – entmachtet. Gegen den massiven Protest der Wirtschaft übernahmen die Stellv. Generalkommandos auch die Lenkung der Rohstoffversorgung. Darauf waren sie in keiner Weise vorbereitet. Zu den zahlreichen daraus entstehenden Problemen kam, dass die Zuständigkeitsbereiche der Stellv. Generalkommandos nicht mit den zivilen Verwaltungsgrenzen übereinstimmten. Eine besonders wichtige Aufgabe der Stellvertretenden Generalkommandos war die Verteilung der immer knapper werdenden Lebensmittel. Damit war das Militär eindeutig überfordert, während die zivilen Behörden zumeist dankbar waren, dass ihnen diese kaum lösbare Aufgabe abgenommen wurde. Mit Ausnahme etwaiger Einsätze des Militärs bei Streiks, Unruhen oder ähnlichen Ereignissen war keine der zivilen und militärischen Behörden bei Kriegsbeginn auf die vielfältigen neuen und zusätzlichen Aufgaben vorbereitet.

Der erste Weltkrieg war nicht nur eine militärische Auseinandersetzung an den Fronten, sondern ganz wesentlich auch ein Wirtschaftskrieg. Die bisher führende Exportnation Deutschland konnte ab 1914 nichts mehr ins Ausland verkaufen. Unmittelbar nach Kriegsbeginn unterbrach Großbritannien mit einer Seeblockade sämtliche Im- und Exporte des Deutschen Reiches aus und nach Übersee. Der dadurch entstandene Mangel an wichtigen Rohstoffen, vor allem aber an Lebensmitteln, bestimmte bis zur Aufhebung der Blockade am 12.Juni.1919, also noch lange nach dem Ende des Krieges, die deutsche Wirtschaft und war Ursache des Hungertodes zahlreicher Deutscher bis weit nach dem Waffenstillstand am 11. November 1918.

Auch die erforderliche Umstellung auf eine Kriegswirtschaft war überhaupt nicht vorbereitet. Wegen des Mangels an Rohstoffen und Arbeitskräften, die vielfach unterernährt und überlastet waren, sank die Produktivität der Industrie auf 60 Prozent der Vorkriegsleistung. Nachdem 50.000 Bergleute als Soldaten einberufen worden waren, fiel die Kohleförderung zeitweilig auf den Stand von zwei Dritteln des Jahres 1914. Der Mangel an Fachkräften konnte bis zum Ende des Krieges nicht behoben werden. Daher wurde zur Mobilisierung aller Ressourcen 1916 das so genannte „Hindenburgprogramm“ eingeführt, im Herbst dieses Jahres ergänzt durch das „Hilfsdienstgesetz“, mit dem alle nicht zum Militär eingezogenen Männer zwischen siebzehn und sechzig Jahren zur Arbeit verpflichtet wurden. Diese Bestimmungen entstanden auf Druck der OHL, nicht etwa der Regierung. Außerdem wurden mehrere tausend Belgier zur Arbeit im Ruhrkohlenbergbau herangezogen sowie 50.000 Soldaten von der Front zurückgeholt und ebenfalls im Bergbau eingesetzt. Die belgischen Bergleute kehrten ab Mitte 1918, als sich die Niederlage des Deutschen Reiches abzeichnete, ungeordnet in ihre Heimat zurück. Trotz aller Schwierigkeiten erreichte die Produktion von Rüstungsgütern bis zum Frühjahr 1918 einen Höchststand.

Das alles beherrschende Thema im Deutschen Reich war während des gesamten Krieges der ständig zunehmende Mangel an Lebensmitteln. Die Produktion von Weizen und Kartoffeln halbierte sich. Aus Knappheit wurde Hunger und zermürbte die anfängliche Kriegsbereitschaft der Bevölkerung. 1915 wurden in Berlin, danach auch in anderen Städten, Lebensmittelkarten eingeführt. Auch die Festsetzung staatlich kontrollierter Höchstpreise konnte den Mangel nicht beheben. Gewinner des Verteilungskampfes um die knappen Lebensmittel waren trotz des Mangels an Arbeitskräften sowie Düngemitteln und Pferden die Landwirte – wenn auch nicht alle –, die von 700.000 zwangsverpflichteten Arbeitern aus Osteuropa auf den Bauernhöfen unterstützt wurden. Außerdem entwickelte sich ein blühender Schwarzmarkt für Lebensmittel, eine Schattenwirtschaft, zu der nur Vermögende Zugang hatten. Der Hunger war letztlich eine wesentliche Ursache für den Untergang der politischen Ordnung des Kaiserreiches am 09. November 1918.

Bis zum Kriegsende wurden 13,2 Millionen, also etwa 56 Prozent der deutschen Männer im wehrfähigen Alter zum Militär einberufen. Dies war die wesentliche Ursache des Arbeitskräftemangels in Industrie und Landwirtschaft. Mit dem „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ vom 05. Dezember 1916 wurde eine Arbeitspflicht für alle Männer eingeführt, soweit sie nicht als Soldaten an der Front waren. Auf die Einführung einer ähnlichen Arbeitspflicht für Frauen wurde jedoch wegen des absehbaren Widerstandes in der Bevölkerung verzichtet. Seit 1917 besetzten Frauen, zumeist aus den Unterschichten, etwa ein Drittel aller Arbeitsplätze, zunächst nur bei Bahn, Post und anderen Dienstleistungsbetrieben, dann aber auch zunehmend in der Industrie. In den Berliner Maschinenbaufabriken arbeiteten ab 1917 bis zu 50 Prozent Frauen. Bis zum September dieses Jahres stieg der Anteil der Arbeiterinnen in dieser Branche gegenüber der Vorkriegszeit auf 320 Prozent. Es entstand so eine weibliche Heimatarmee. Mit dem Arbeitseinsatz von Millionen Frauen während des Ersten Weltkrieges änderte sich das traditionelle Familienbild der Vorkriegszeit. Die Frauen erhielten für ihre Arbeit erbärmlich wenig Geld, was dennoch ihr Selbstwertgefühl stärkte. Bis 1919 blieben die Frauen von jeglicher politischen Teilhabe ausgeschlossen. Erst die Weimarer Reichsverfassung gewährte ihnen das aktive und passive Wahlrecht.

Zusammenfassend stellte Dr. Vollert fest, dass im Deutschen Reich ab 1914 ein totaler Krieg mit verheerenden Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft entstand, da auch die Heimat vollständig in den Dienst des Krieges gestellt worden war. Weder die Regierung noch die Verwaltung oder die Bevölkerung waren darauf vorbereitet Dabei blieben die politischen und gesellschaftlichen Konflikte der Vorkriegszeit bis zum Kriegsende weitgehend unverändert. Daran änderte die im Oktober 1918 eingeführte Verfassungsreform nur wenig.

Gegen den heftigen Widerstand der Unternehmer entwickelten sich in der Kriegszeit Anfänge einer Sozialpartnerschaft, dagegen fanden die Ideen der russischen Oktoberrevolution nur begrenzt Widerhall, spurlos blieben sie in Deutschland gleichwohl nicht. Trotz der erheblichen Einkommens- und Statusverluste des Mittelstandes kam es in dieser gesellschaftlichen Gruppe zu keiner Radikalisierung. Über vier Jahre bestimmte der Krieg die Lebenswelt der Deutschen. Im November 1918 ging das alte Europa mit seinen Werten und Normen unter. Viele Gewissheiten der Vorkriegszeit gingen für immer verloren. Das Kaiserreich ist geräuschlos untergegangen.

Dr. Jürgen G. Blätzinger
Generaloberstabsarzt a.D.