Nachruf auf General a.D. Wolfgang Altenburg

General Wolfgang Altenburg als Generalinspekteur der Bundeswehr, 1984, Bildstelle BMVg, Matthias Zins, 1983

Am 25. Januar 2023 ist General a.D. Wolfgang Altenburg, 8. Generalinspekteur der Bundeswehr von 1983 bis 1986 sowie danach Chairman NATO Military Committee, im Alter von 94 Jahren gestorben.

General Wolfgang Altenburg als Generalinspekteur der Bundeswehr, 1984, Bildstelle BMVg, Matthias Zins, 1983

Wer den Menschen Wolfgang Altenburg kennen lernen durfte, für den zeigte sich zum ersten ein völlig untypischer General. Gar nicht heeresmäßig! Im Gespräch war er – für mich als deutlich lebensjüngeren Historiker und Offizier – eher moderat; klar in der Sprache, aber stets um den Austausch und Dialog engagiert. Er sprach nicht allein aus seiner Warte, sondern nahm seine Gesprächspartner mit. Es war immer ein auf Augenhöhe miteinander diskutieren – erst recht, wenn es um „sein Thema“, die Rolle von Nuklearwaffen in der Militär- und Sicherheitspolitik ging.

Schaute man dann aber in seinen Lebenslauf und hörte seine Lebensgeschichte, dann zeigte sich ein an Erfahrungen reicher Mann. Der am 24. Juni 1928 im westpreußischen Schneidemühl, heute Piła in Polen, geborene Schneidersohn, erlebte den Aufstieg des Nationalsozialismus, der in seiner Familie zu Spannungen zwischen dem konservativen Vater und der durchaus NS-affinen Mutter führte. 1944 kam der jungen Wolfgang mit seiner ganzen Schulklasse als Marinehelfer nach Helgoland. Dieser Vorposten in der Nordsee war mit Flak- und Schiffsartillerie reich besetzt und besaß im deutschen Radarstationennetz eine besondere Bedeutung: Hier wurden die alliierten Bomberströme ‚ins Reich‘ erfasst. Weil seine Heimat Ende Januar 1945 von der Roten Armee besetzt wurde, konnten die Marinehelfer aus Altenburgs Jahrgang nicht mehr nach Hause zurück. Sie blieben auf der Insel, die am 18. April 1945 fast ausgelöscht wurde. Altenburg verlor mehr als die Hälfte seiner Klassenkameraden. Ein zuvor von wenigen Insulanern und Soldaten unternommener Versuch, die Insel zu übernehmen und den Bombenangriff abzuwenden, scheiterte. Die daraus resultierenden Todesurteile, nach kurzer Verhandlung postwendend vollstreckt, blieben Wolfgang Altenburg lebenslang im Gedächtnis. Er unterstütze in den frühen Jahren des Jahrtausends die Errichtung eines Gedenksteines für die Opfer.

Nach dem Krieg fand die Familie Altenburg durch Zufall nördlich von Bremen zusammen. Sie hatte alles verloren. An den Erwerb des Abiturs war für den jungen Wolfgang erst einmal gar nicht zu denken. Er musste helfen, die Familie „durchzubringen“. In den folgenden knapp 10 Jahren war er bei den amerikanischen Besatzungstruppen tätig, zuletzt als Versorgungsoffizier. Dabei erwarb er ersten Wohlstand im Wirtschaftswunder: eine Wohnung, ein Auto, und lernte seine Frau Ursula kennen.

1956 bewarb er sich für die Offizierlaufbahn in der Bundeswehr. Dazu musste eine dem Abitur gleichwertige Ersatzprüfung bestehen. Er überwand sie mit Hindernissen. Am 1.10.1956 trat er 28jährig und als Vater zweier Kinder in das Artillerielehrbataillon in Idar-Oberstein ein, durchlief die Offizierausbildung und hatte erste Verwendungen im Panzerartillerieregiment 3 in Bremen-Grohn. 1961 wurde er Chef der 3. Batterie des Raketenartilleriebataillons 32 in Dörverden, einer Honest John-Einheit. Ab dieser Zeit befasste er sich mit Nuklearwaffen und ihrem Zweck im künftigen Krieg. Sein Credo entwickelte sich: „Man darf nicht zerstören, was man, an den Eid gebunden, schützen muss!“

In der Generalstabsausbildung kam es darüber zum Konflikt mit seinen Vorgesetzten und Fachlehrern, als er den Wirkungsradius und die Zerstörungen von Nuklearwaffen auf der Karte darstellte. Ulrich de Maizière, damals Akademiekommandeur, bat Altenburg danach zum Vieraugengespräch – andere im Hörsaal mutmaßten schon über das Karriereende von Altenburg – und fragten, ob das so stimme. Ja, das ist so!

Die anschließenden Verwendungen als G1 der 6. Panzergrenadierdivision, als G3 der Panzerbrigade 18 und als Kommandeur des Feldartilleriebataillons 61 waren Normalität für einen Generalstabsoffizier. Nicht jedoch, dass er im Januar 1970 urplötzlich sein Bataillon abgeben und dann dem Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Albert Schnez, helfen musste, in der Öffentlichkeit besser wahrgenommen zu werden. Der General hatte mit der nach ihm benannten Studie den Eindruck erweckt, einen ganz reaktionären Stil in der Bundeswehr umsetzen zu wollen. (Tatsächlich waren es eher die Autoren im Hintergrund, die ihr Weltbild in diesem Papier verankert hatten.) Für die Zeitgenossen war Altenburg der „Schnez-Image-Polierer“ und er gewann Kontakte zu beinahe allen namhaften wehrpolitischen Journalisten der Bundesrepublik.

Wenige Wochen vor Schnez‘ Abschied 1971 wurde Altenburg für ein neue Verwendung identifiziert, die seinen weiteren Weg einzigartig gestalten sollten: Er wurde als Oberst, fünf Jahre vor dem frühestmöglichen Beförderungstermin nach der Laufbahnverordnung, Deputy Chief Nuclear Policy Section bei SHAPE. Damit war er auf der strategischen Ebene der Allianz angekommen, sozusagen im engeren Umfeld des SACEUR. Die PPG’s, die “Provisional Political Guidelines for the Defensive Use of Tactical Nuclear Weapons by NATO”, das 1969 implementierte Regelwerk für den politischen und militärischen Abstimmungsprozess zum Nuklearwaffeneinsatz in der Allianz, war fortan sein tägliches Geschäft. Als Referatsleiter FüS III 1, als stellvertretender StAL FüS III und dann als Stabsabteilungsleiter wie auch als deutscher Militärischer Vertreter im Military Committee war er in den Folgejahren an der Umsetzung der strategischen Policy der Allianz maßgeblich beteiligt. Dies alles mündete letztlich im Dezember 1979 im NATO-Doppelbeschluss. Das Ergebnis ist bekannt: Nach gescheiterten Abrüstungsgesprächen zwischen den USA und der Sowjetunion kam es ab 1983 zur Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles in Europe sowie 1987 zum INF-Vertrag, der diese Systeme und die sowjetischen SS-20 abschaffte.

Bis dorthin erklomm Wolfgang Altenburg die letzten Stufen der Karriereleiter: 1980 Kommandierender General des III. Korps sowie 1983 Generalinspekteur der Bundeswehr. Für dieses Amt war er seit 1979 seitens der Personalführung identifiziert. Angesichts der sicherheitspolitischen Umstände hatte er keinen Konkurrenten.

Die Bundeswehr näherte sich 1983 dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit: Leopard 2, Fregatte 122 und MCRA Tornado waren in der Einführung. Die Heeresstruktur 4 hatte ein Maximum an Kampfkraft, trotz limitierter Haushaltsmittel – inklusive schon damals existierendem Munitionsmangel. Im Bündnis war sie anerkannt und Spitzenposten waren auch durch deutsche Truppenführer besetzt. CINCENT z.B. war Altenburgs Kamerad vom 5. Generalstabslehrgang Leopold Chalupa. DSACEUR wurde nach der Wörner-Kießling-Affäre mit Hans-Joachim Mack, ebenfalls aus diesem Lehrgang.

Die Bundeswehrplanung erwies sich schon damals als ein Zauberwerk: Wie sollte angesichts der begrenzten Finanzmittel und des demographischen Wandels weiterhin eine Armee von knapp 500.000 Mann erhalten werden? – Wir wissen heute, dass dieses Budgetproblem trotz Wiedervereinigung und weitreichender Abrüstung nie gelöst wurde.

Dass Wolfgang Altenburg beim Herbsttreffen der Chiefs of Staff der NATO im Herbst 1985 einstimmig und im ersten Wahlgang zum Chairman MC NATO (CMC), zum Sprecher der Generalstabschefs der NATO gewählt wurde, war formal keine Selbstverständlichkeit. Der Rückenwind der USA und vor allem die Unterstützung durch die südeuropäischen NATO-Staaten hatte seine Wahl frühzeitig sicher erscheinen lassen. In Altenburgs Zeit als CMC fiel der Wechsel in der Sowjetunion, der mit Michail Gorbatschow einen aufgeschlosseneren Politiker an die Spitze brachte, als es zuvor je denkbar schien. Die Abrüstung kam mit dem INF-Vertrag in Gang. Militärisch bedeutete dieser Vertrag jedoch gleichzeitig, dass die NATO angesichts der konventionellen Unterlegenheit gegenüber dem Warschauer Pakt stärker gefährdet wäre. Der SACEUR sprach sich deswegen gegen diese Abrüstung aus. Der Chairman befürwortete sie wegen der möglichen Auswirkungen auf die Entspannung – und sollte erst einmal Recht behalten.

Später traf Altenburg auch Gorbatschow persönlich und lernte ihn schätzen. Freilich war die Sowjetunion da schon von inneren Konflikten zerrüttet und Gorbatschow verlor später alle seine Ämter – es blieb nur die kostenlose Wertschätzung im Ausland.

Als General Wolfgang Altenburg am 30. September 1989 aus der Bundeswehr verabschiedet wurde war der Osten Europas in Bewegung gekommen: Ungarn riss den Grenzzaun ein. Polen hatte bereits eine Regierung ohne Beteiligung der Kommunisten. Dass wenige Wochen später die Berliner Mauer fallen würde, ahnte kaum einer.

Altenburg zog sich als Pensionär nicht zurück. Er nahm Tätigkeiten in der Wirtschaft auf, auch zugunsten der deutsch-französischen Beziehungen. Erst mit 80 zog er sich vollständig aus dem Berufsleben zurück. Der Rosenhof in Travemünde wurde sein Altersitz, an dem er Journalisten, Historiker, Militärs und alle, die mit ihm sprechen wollten, empfing.

Eine, wenn nicht die wichtigste Konstante in seinem Leben war dabei sein Frau Ursula (eigentlich sagen alle Ulla). Mit ihr war er seit 1951 verheiratet. Sie hatten drei Kinder und diese ebenso einigen Nachwuchs. Wer den General besuchte, bekam die Familie Altenburg zu Gesicht. Sie waren ein Team. Ulla hatte bis dahin alle Umzüge des Soldaten gemanagt; und einiges mehr. Der General a.D. ruhte an der Seite seiner herzlichen Frau in sich. Sie führten unübersehbar eine sehr harmonische (Soldaten-)Ehe. Beide waren zuvorkommend im Umgang und unprätentiös bei Besuchen. Und er? Gar nicht heeresmäßig. In allem.

Epilog: Mein akademischer Lehrer sagte einmal: „Deutsche Generale fallen auf dem Feld der Ehre, werden nach dem Staatstreich erschossen oder steinalt!“ Als ich General Altenburg mit dieser „Weisheit“ konfrontierte, kommentierte er höflich jeweils ins Wort fallend: vom ersten habe er seit Helgoland genug, das braucht er auch nicht mehr; für das zweite habe es nie einen Grund gegeben, wieso auch? Beim dritten schaute er mich an, blickte zu seiner Frau, lächelte leicht und kommentierte: „Darin bin ich eigentlich ganz gut!“ Ja, im Understatement war er auch gut. Er war ein herausragender General und ein feiner Mensch.

Heiner Moellers

Zum Autor: Oberstleutnant Dr. Heiner Moellers ist Leiter des Projektbereichs Militärgeschichte der Bundesrepublik Deutschland im Forschungsbereich Militärgeschichte nach 1945 am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam (ZMSBw)