“Betrachtungen zu deutschen Sicherheitsinteressen” – RK Nord am 25.09.2014

Am 25.09.2014 hielt General a.D. Rainer Schuwirth, ehem. Chef des Stabes SHAPE und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik, einen Vortrag vor dem Regionalkreis Nord der Clausewitz-Gesellschaft e.V. zum Thema “Betrachtungen zu deutschen Sicherheitsinteressen”

Hier eine Kurzfassung des  Vortrages:

Eigentlich sollte 2014 nur ein gewichtiges Jubiläumsjahr sein. Nun aber hat der gemeinsame Sicherheitsraum von Vancouver bis Wladiwostok Schrammen, Risse sind im europäischen Haus.
Wir sind in diesen Wochen und Monaten alle einmal mehr Zeugen, was der Verlust von Sicherheit oder auch nur ihre Gefährdung bedeutet oder bedeuten kann, zumal auf unserem Kontinent. Risikokategorien gibt es reichlich, von Terror über Organisierte Kriminalität, Umweltprobleme-und Finanzkrisen usw. bis hin zu Souveränitätsverlusten. Oft sind diese Risikogarantien miteinander kombiniert.
Mali, Zentralafrika, Nahost, Syrien, Irak, „Islamischer Staat (IS)“, Ukraine, gewaltige Flüchtlingsströme, Ebola usw. usw., in der Summe sind es neue Gefahren, neue Dynamiken (IS), neue Dimensionen, neue geografische Weiten, und zudem „strategic surprise“.
Allerdings ist eigentlich schon lange klar, dass die Welt nicht einfacher und ungefährlicher geworden ist, entgegen mancher Hoffnung. Von vielen wird das angesichts unserer „friedfertigen Insellage“ auch verkannt oder nicht wahrgenommen, zumal uns immer wieder beigebracht wurde, dass es für alles nur eine politische Lösung geben kann. Das ist im Prinzip sicher richtig, aber eine politische Lösung kommt nicht von alleine und bedarf vielfältiger Mittel in Wechselwirkung zueinander, also die vernetzte Sicherheitspolitik, die ja auch nicht dadurch entsteht, dass man nur davon redet
Deutschlands Außenpolitik ist werteorientiert und interessengeleitet, kann man seit langem in offiziellen Papieren oder auch im Koalitionsvertrag nachlesen. Aber was heißt das eigentlich?
Für Sicherheit biete ich Ihnen einmal folgende Kurzbeschreibung an: Sicherheit stellt für Deutschland den Zustand dar, in dem die Wahrung bzw. Verwirklichung unserer von Politik und Gesellschaft verbindlich festgelegter Normen und Werte, insbesondere die Vorgaben des Grundgesetzes, gewährleistet sind. Deutschlands Sicherheit wird latent sowohl in politischen als auch in wirtschaftlichen, militärischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Bereichen durch Machtverschiebungen und unterschiedliche Interessenlagen gefährdet. Diese Gefährdung kann sich mittelbar oder unmittelbar, versteckt oder offen, stark oder schwach, schnell oder langsam einschließlich sämtlicher Zwischenstufen manifestieren. Zur Gewährleistung muss deutsche Sicherheitspolitik einem breiten Ansatz folgen, in dem politische, wirtschaftliche, kulturelle, humanitäre, soziale, ökologische und auch militärische Mittel in ausgewogener Form ihren Platz haben.
Das klingt stark nach Weißbuch 2006 oder Koalitionsvertrag 2013. Jedoch – diese Beschreibung stammt aus dem Jahr 1991 aus einem BMVg Papier. Interessant daran ist, dass die sogenannte vernetzte Sicherheit oder der Comprehensive Approach in NATO oder EU keine Errungenschaft der letzten paar Jahre sind. Einsatz aller Mittel im Rahmen einer Strategie zur Erreichung politischer Ziele findet sich schon bei Clausewitz, und im kalten Krieg kannten wir die Gesamtverteidigung und haben sie mit WINTEX/CIMEX auch geübt.
Gleichwohl, wichtige Ziele, um unsere Werte zu wahren, sind u.a. Sicherheit und Schutz der Bürger, das Bewahren territorialer Integrität und Souveränität, der freiheitlich demokratischen Grundordnung, des Friedens in Freiheit, sowie der Rechtsstaatlichkeit. Dazu kommt das Wahrnehmen internationaler Verantwortung, wie gerade in jüngster Zeit wieder stark betont. Diese Elemente sind sozusagen permanente Hauptaufgaben und verlangen ständige Aufmerksamkeit.
Dazu sind immer wieder sicherheitspolitische Positionen abzuleiten und festzulegen. Diese müssen in nationale wie multinationale Gremien und Organisationen, vor allem die Vereinten Nationen (VN), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die NATO und die EU, eingebracht werden, weil Sicherheit angesichts Dimension und Vielfalt nur gemeinsam mit Gleichgesinnten geformt werden kann. Das verlangt aber dann auch Mitgestalten und Stärken dieser Organisationen durch angemessene Beiträge. Diese wiederum bestimmen maßgeblich das Ansehen und Gewicht eines jeden Mitglieds.
Zudem haben die relevanten Themen eine enorme Vielfalt. Man muss nur einmal die Zwischenüberschriften des Kapitels „Deutschlands Verantwortung in der Welt“ aus dem Koalitionsvertrag nehmen: in dieser Reihenfolge finden sich dort NATO, Russland, VN, globale Partnerschaften, Kultur, Bildung, außen- und sicherheitspolitische Gestaltung, Neuausrichtung der Bundeswehr, Menschenrechte, humanitäre Hilfe, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Entwicklungspolitik.
Eine solche Auflistung illustriert zum einen, welch breite Aktionsfelder zu berücksichtigen sind. Andererseits lässt sie keine klaren Rückschlüsse zu, wo denn die Prioritäten liegen, unsere wichtigen und weniger wichtigen Handlungsfelder.
Das wiederum wirft die schon von mehreren Seiten geäußerte Frage auf, ob es zweckmäßig wäre, eine nationale Sicherheitsstrategie zu entwickeln. Das könnte wohl keine Handlungsanweisung für konkrete Fälle sein, sondern ergäbe vergleichbar mit dem strategischen Konzept der NATO oder der EU-Sicherheitsstrategie einen Orientierungsrahmen für Beurteilungen, Maßstäbe, Konsequenzen hinsichtlich erforderlicher Fähigkeiten. Zwar gibt es die Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) aus dem Jahr 2011, aber kein überwölbendes, alle relevanten Ressorts umfassendes und natürlich das Parlament einbeziehendes Dokument.
Der Charme eines solchen Vorhabens wäre, dass es zu Grundsatzdebatten herausfordern würde – zu Debatten wie halten wir es denn mit der Macht und der Machtanwendung und welche Instrumente sind geeignet und in welchem Umfang und Art erforderlich, natürlich weit mehr als militärische Macht? Oder: wie halten wir es mit der immer wieder betonten Krisenprävention, dem frühzeitigen Erkennen, vorsorglicher Planung und dem Begegnen krisenhafter Entwicklungen mit Abhilfemaßnahmen – national wie multinational – und im jeweils angemessenen Verbund von zivilen und / oder militärischen Mitteln? Und welche Fähigkeiten auch im zivilen Bereich einschl. Polizei sind für solche Zwecke vorzuhalten? Oder welche Lehren und Folgerungen ziehen wir aus bisherigen Krisen, Konflikten und Reaktionen – Balkan, Afghanistan, jetzt Russland-Ukraine, IS oder auch Ebola? In welchem Verhältnis stehen ursprüngliche Ziele und Absichten, Mitteleinsatz und Erreichtes? Wie justieren wir künftig die Maßstäbe für eine Einsatzentscheidung? Welche Rolle spielen verfassungs- und völkerrechtliche Bedingungen, sicherheitspolitische bzw. humanitäre Erwägungen, realistische Erfolgsaussichten und erwartete Kosten?
Naturgemäß kann eine Sicherheitsstrategie nicht auf alle Problemstellungen und Fragen eine probate Antwort geben. Aber durchdachte und durchdrungene Grundpositionen als festes Standbein wären enorm wichtig – auch für unsere Haltung und Stellung in internationalen Organisationen wie NATO, EU, VN und OSZE – sowie als Nachweis der Verlässlichkeit – nach innen wie nach außen. Verlässlichkeit, dazu Solidarität – nicht gleichzusetzen mit blindem Gefolge – Glaubwürdigkeit, und Entschlossenheit – auch zu Eskalation wie Deeskalation in konkreten Situationen, sind bekanntlich ja Elemente, die zur Wahrung von Sicherheitsinteressen unverzichtbar sind – wie sich das so oder so auch in gegenwärtigen Krisen und Konflikten zeigt.
In einem solchen Gesamtpaket hätte man eine klare Darlegung von sicherheitspolitischen Zielen, Interessen und damit den Bereichen, die besondere Aufmerksamkeit verlangen, sowie Folgerungen für den zivil-militärischen Instrumentenkasten.
Es versteht sich von selbst, dass ein solches Werk nicht Entscheidungen zum konkreten Handeln in einer sich stellenden Situation vorwegnehmen kann. Es kann auch nichts für die Ewigkeit sein, sondern bedarf regelmäßig der Überprüfung, Veränderung oder Ergänzung – wenn wir nur einmal Entwicklungen in der Informationstechnik und im Umgang mit Informationen oder bei der Weltraumnutzung heranziehen, aber auch die Bedeutung einer wertschöpfenden Industrie und der gewerblichen Wirtschaft für unseren Staatshaushalt und unser Land bedenken.
Eine Anmerkung zu Fähigkeiten: die vielfältigen Initiativen der letzten 15 – 20 Jahre haben nicht zu entscheidenden Verbesserungen bei den erkannten Defiziten geführt. Defence Package, Connected Forces Initiative, Smart Defence, Headline Goals, Pooling and Sharing, Framework Nation Concept usw. füllen ganze Regale, und mit jedem Gipfel, Ministerrat und Kommunique kommen neue Initiativen dazu. An den Defiziten hat das so viel nicht geändert, einschließlich der Erwartungen an die NATO Response Force und die EU Battle Groups.
Fortschritte kommen auch nicht, wenn man immer wieder von einer europäischer Armee spricht und sich davon vorrangig finanzielle Einsparungen erwartet, aber die gewichtige Frage, für welche Aufträge diese bereitgehalten und nach welchem Regelwerk sie denn funktionieren soll, erst mal außen vor lässt.
Schließlich, wir leben mit einer gefahrvollen Ungewissheit und haben mehr als genug Kriege, Krisen. Wir wollen Sicherheit und Schutz für unser Land, unsere Bürger und unsere Verbündeten und Partner, vorrangig in NATO und EU, aber auch darüber hinaus. Auch wenn es alles andere als einfach ist: wir brauchen
Klarheit über Ziele, Interessen und Instrumentarium und sollten nicht vergessen: Wachsamkeit bleibt ein Preis der Freiheit.