“Der Bedeutungsverlust des türkischen Generalstabs ab 2003” RK West am 15.09.2014

BrigGen a.D. Dipl.-Ing. Eckhard Lisec

BrigGen a.D. Dipl.-Ing. Eckhard Lisec

Seit 2011 hat Brigadegeneral a.D. Dipl.-Ing. Eckhard Lisec beim Regionalkreis West jährlich zu Themen vorgetragen, die u.a. die geschichtliche Entwicklung der türkischen Streitkräfte und deren Einfluss auf die türkische Politik und die türkische Gesellschaft zum Inhalt hatten. Aufbauend auf seiner letzten dienstlichen Verwendung in einem NATO-Stab in Istanbul und guten Kenntnissen der türkischen Sprache, befasst sich Herr Lisec seit seiner Zurruhesetzung  intensiv mit der Geschichte des Osmanischen Reiches, der Türkei seit ihrer Gründung und deren Kultur und Religion. Der Referent hat sich dabei mittlerweile einen ausgezeichneten Ruf als profunder Kenner des türkischen Militärs und dessen Historie erworben.


Mit den seit der Wahl des islamisch-konservativen Recep Tayyip Erdogan zum Ministerpräsidenten der türkischen Republik im Jahr 2003 erfolgten tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, gingen epochale Veränderungen in der Führung der türkischen Streitkräfte einher; Veränderungen die bis dahin undenkbar schienen. Als Hüter des Kemalismus spielten die Streitkräfte seit 1923 bis in die Gegenwart eine herausragende Rolle in der modernen türkischen Republik. Bei drei teilweise blutigen Militärputschen in den Jahren 1960, 1971 und zuletzt 1980 nahm das Militär entscheidenden Einfluss auf die türkische Politik. Der Referent erklärte anschaulich, wie die obersten militärischen Führer im Generalstab aus ihrem gewachsenen Selbstverständnis heraus sich als Offiziere im Recht und in der Pflicht sahen, das Erbe des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk und mit ihm den säkularen Staat zu bewahren. Dabei stützten sie sich auf auslegbare, weil nicht hinreichend präzise formulierte Artikel der türkischen Verfassung, denen zufolge die Streitkräfte nicht nur der Landesverteidigung dienten, sondern – im Gegensatz zu anderen Staaten –  die Pflicht hatten, die Demokratie zu bewahren und vor der Machtübernahme durch Extremisten zu schützen.
Der nunmehrige Staatspräsident Erdogan beschnitt nach seiner damaligen Wahl zum Ministerpräsidenten die Befugnisse und den gesamtpolitischen Einfluss des Generalstabs der Streitkräfte in einem zuvor kaum für möglich gehaltenen Umfang. Herr Lisec konnte an Beispielen anschaulich aufzeigen, dass es nicht allein die konservative Regierung war, die den Bedeutungsverlust des türkischen Generalstabs einleitete, sondern dass ganz wesentlich Fehleinschätzungen und auf diesen basierende selbstverschuldete Handlungen der Spitzenmilitärs selbst den Niedergang nicht nur ermöglichten, sondern sogar noch forcierten. Ein Eckdatum war dabei der geschlossene Rücktritt der nahezu gesamten Streitkräfteführung im Jahr 2011.
Aus Sicht des außen stehenden Betrachters in Deutschland und den anderen EU-Staaten wurde der türkische Generalstab lediglich auf die „normalen“ Verhältnisse in demokratischen Staaten reduziert, für die Türkei selbst und insbesondere für das Selbstverständnis des türkischen Generalstabs, kamen die Veränderungen jedoch einer Revolution gleich, deren politische Folgen noch nicht absehbar sind.
Dem Vortrag von Brigadegeneral a.D. Lisec schloss sich eine ausführliche Aussprache an, die sich weit über das primär militärische Thema hinaus auf die aktuellen und denkbaren zukünftigen politischen Entwicklungen der Türkei erstreckte. Auf einen weiteren Vortrag zum Themenkomplex der politischen Entwicklungen der Türkei und deren Streitkräfte im kommenden Jahr 2015 dürfen sich die Mitglieder und Gäste des Regionalkreises West freuen; Herr Lisec steht dafür zur Verfügung.
In seiner Einführung hatte Generaloberstabsarzt a.D. Dr. Jürgen Blätzinger, der die Veranstaltung moderierte, des am 26. August 2014 verstorbenen Generalmajors  a.D. Christian Hellwig gedacht, der langjähriges Mitglied der Clausewitz-Gesellschaft gewesen war.