“Russland und der Westen II – Missverständnisse oder bewusstes Missverstehen” – RK West am 21.03.2022

General a.D. Rainer Schuwirth

Am 7. Februar hatte Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen im RK WEST die geopolitischen, strategischen und ideologischen Hintergründe des Russland-Ukraine-Konflikts aufgezeigt. Am 24. Februar ist der Fall, den man sechs Wochen zuvor befürchten musste, tatsächlich eingetreten: Russland hat die Ukraine an mehreren Fronten angegriffen. “Putinversteher” haben seitdem zwar keine Konjunktur; es gibt aber immer noch eine Reihe von Politikern und Journalisten, die dem Westen eine Mitschuld am Kriegsausbruch attestieren.

Man habe mit der Osterweiterung der NATO und der Unterstützung der Hinwendung der Ukraine zur EU und möglicherweise später auch zur NATO nicht nur elementare russische Sicherheitsinteressen verletzt, sondern Russland regelrecht hintergangen. Denn im Rahmen der deutschen Vereinigung habe man der Sowjetunion zugesagt, das NATO-Territorium nicht auszuweiten. Die “ausgestreckte Hand” der Sowjetunion und später Russlands habe der Westen nicht ergriffen. Stattdessen habe die NATO Russland eingekreist und stelle eine letztlich nicht hinnehmbare Bedrohung für Russland dar. Diese Thesen sollten in einer Online-Veranstaltung von drei Zeitzeugen, die in unterschiedlichen Verwendungen die damaligen Verhandlungen begleitet haben, näher betrachtet werden.

Sicherheitspolitische Vereinbarungen im Zuge der deutschen Vereinigung

General a.D. Rainer Schuwirth hat als Adjutant der Bundesminister der Verteidigung Scholz und Stoltenberg und danach als Referatsleiter FüS III 1 “Militärpolitische Grundlagen” die erste Annäherung zwischen den Verteidigungsministern der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion miterlebt und war an der Entwicklung deutscher Positionen zur Vereinigung beteiligt. Der Referent schilderte sehr anschaulich den Moskaubesuch Bundeskanzler Kohls mit einer Regierungsdelegation Ende Oktober 1988, an dem erstmalig ein deutscher Verteidigungsminister, Dr. Scholz, teilnahm. Die umfassenden Gespräche führten zu einer erfreulichen Verbesserung der Beziehungen. Diese “Klimaverbesserung” und vor allem der von Gorbatschow angestoßene Reformprozess waren wichtige Schritte auf dem Weg zur deutschen Vereinigung, die damals natürlich noch nicht absehbar war. Erst die bekannten Entwicklungen in der DDR im Laufe des Jahres 1989 brachten eine neue Dynamik.

Diese Frage der Bündniszugehörigkeit und des sicherheitspolitischen Status des Beitrittsgebiets war zunächst ein Streitpunkt innerhalb der Bundesregierung gewesen. Minister Stoltenberg, der ein sehr gutes Verhältnis zum amerikanischen Außenminister Baker pflegte, hielt die Bündniszugehörigkeit und die Gültigkeit des NATO-Vertrages für das gesamte Territorium eines vereinten Deutschlands für unverzichtbar. Umfang und Struktur deutscher Truppen auf dem Gebiet der damaligen DDR seien in den bevorstehenden Gesprächen zu klären. Er stellte sich damit klar gegen die Position des Außenministers Genscher, der Ende Januar in seiner Tutzinger Rede ausführte, dass Vorstellungen, das Gebiet der DDR werde bei einer Vereinigung in militärische Strukturen der NATO einbezogen, die deutsch-deutsche Annäherung blockieren würde.

Aber am 15. Februar 1990 informierte der Bundeskanzler, dass Präsident Gorbatschow der deutschen Einigung im Grundsatz zugestimmt und keine Neutralisierung verlangt habe, wobei Einzelheiten der Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands offenblieben.
Die weitere Klärung brachten zum einen die im Mai begonnenen “Zwei-plus-Vier”-Gespräche, zum anderen das Treffen von Bundeskanzler Kohl mit Präsident Gorbatschow im Juli im Kaukasus.

Bis der Zwei-plus-Vier-Vertrag am 12. September 1990 unterzeichnet werden konnte, mussten in den vier Verhandlungsrunden viele Vorbehalte ausgeräumt und die Einzelheiten der sicherheits- und bündnispolitischen Stellung eines vereinten Deutschlands sowie zur Stärke, Bewaffnung und Stationierung der Bundeswehr im Beitrittsgebiet verhandelt werden.

In den direkten Verhandlungen Bundeskanzler Kohls mit Präsident Gorbatschow im Juli 1990 im Kaukasus stimmte die Sowjetunion zu, dass mit der Vereinigung die Vier-Mächte-Rechte erlöschen und Deutschland seine volle Souveränität erlangt. Im Ergebnis gehörte das wiedervereinigte Deutschland von Beginn an der NATO mit allen Rechten und Pflichten an. Deutschland konnte auch auf dem ehemaligen DDR-Territorium deutsche Truppen stationieren. Solange allerdings noch sowjetische Truppen auf dem Beitrittsgebiet standen, sollten “keine Strukturen der Nato auf dieses Gebiet ausgedehnt” werden und die dort stationierten deutschen Truppen sollten nicht NATO-assigniert sein.

Erstaunlich zügig gestalteten sich die Verhandlungen zur zeitlich begrenzten Stationierung und zum Abzug der sowjetischen Truppen aus dem vereinten Deutschland. Die Einigung nach nur vier Verhandlungsrunden, die Truppen bis Ende 1994 abzuziehen, wurde durch eine finanzielle Kompensation in Höhe von 15 Mrd. DM für den Wohnungsbau und für zivilberufliche Umschulungen von Soldaten ergänzt. Der Truppenabzug selbst verlief dann – mit einigen Einschränkungen – ohne größere Probleme.

General Schuwirth stellte ausdrücklich klar, dass sich die damaligen Verträge und ergänzenden Vereinbarungen im Zuge der Wiedervereinigung ausschließlich auf Deutschland bezogen hätten. Der Begriff “Osten” in diesem Zusammenhang sei durchweg für das Gebiet der damaligen DDR verwendet worden. Die osteuropäischen Staaten seien zu diesem Zeitpunkt Mitglieder des noch existierenden Warschauer Paktes gewesen, und an eine spätere NATO-Öffnung für diese Staaten habe man damals nicht einmal ansatzweise gedacht.

Bilaterale militärpolitische Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion 1989 – 1991

Im zweiten Abschnitt der Veranstaltung berichtete der Verfasser über die Entwicklung der militärpolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion seit der Endzeit des Kalten Krieges, die er als Adjutant des damaligen Generalinspekteurs Admiral Dieter Wellershoff miterlebt hatte.

Im Mai 1989 besuchte der Generalinspekteur als erster westlicher Generalstabschef seinen sowjetischen Counterpart, Armeegeneral Moissejew, und beendete damit den Besuchsboykott, der nach dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan Ende 1979 verhängt worden war. Der Besuch umfasste Gespräche und Truppenbesuche in Moskau und Leningrad. Er sollte der Weiterentwicklung der militärpolitischen Beziehungen, dem gegenseitigen Kennenlernen und der Vertrauensbildung dienen.

Die Stimmungslage schwankte zwischen Aufbruch zu neuen Ufern und weiterhin bestehendem Misstrauen und Unverständnis. Denn einerseits gab es auf sowjetischer Seite durchaus aufgeschlossene Persönlichkeiten, die merkten, dass sich die Zeiten verändert hatten, und positiv an der Beendigung des Kalten Krieges mitwirken wollten. Dazu zählte der Generalsstabschef Armeegeneral Moissejew. Andererseits war unverkennbar, dass viele, dazu gehörten der Verteidigungsminister Jasow und die Chefs der Hauptstäbe der Teilstreitkräfte, sich aus ihren seit Jahrzehnten praktizierten Denkschemata nicht zu lösen vermochten. Die Hoffnung war damals, dass dies eine Generationenfrage sei, die sich mit der Zeit auswachsen würde.

Die nächsten Begegnungen fanden Anfang 1990, also ein dreiviertel Jahr nach dem Moskau-Besuch, beim Doktrinenseminar der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Wien statt. Der Wert dieser Veranstaltung lag darin, dass sich erstmalig alle Generalstabschefs der NATO und des WP gemeinsam mit denen der neutralen Staaten am Konferenztisch trafen und freimütig auch unterschiedliche Auffassungen diskutierten. Das war damals durchaus eine Sensation, die von den Medien auch entsprechend herausgestellt wurde.

Neben den Plenumsveranstaltungen, die überwiegend von deklaratorischen Aussagen geprägt waren, wurde das Meeting von nahezu allen Teilnehmern auch für bilaterale Gespräche genutzt. Dabei standen, was bei der Terminierung der Veranstaltung niemand vorhergesehen hatte, die deutschlandpolitische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf das Ost-West-Verhältnis im Mittelpunkt. Der Generalinspekteur traf sich mit den Generalstabschefs der Gastnation Österreich, der Schweiz, der Sowjetunion, Polens, Ungarns, der Tschechoslowakei und der DDR.
In den Gesprächen wurde deutlich, dass im Warschauer Pakt, den man bislang weitgehend als monolithischen Block betrachtet hatte, Spannungsrisse auftraten. Alle Generalstabschefs der Osteuropäischen Staaten gingen erkennbar auf Distanz zur Sowjetunion, betonten ihre Eigenständigkeit und suchten den Kontakt zu ihren westlichen Nachbarn. Der Ungar deutete an, dass der Warschauer Pakt im Begriff sei auseinanderzubrechen.

In dem Gespräch des Generalinspekteurs mit Armeegeneral Moissejew, das in einer sehr freundlichen Atmosphäre stattfand, ließ dieser anklingen, dass an der deutschen Vereinigung wohl kein Weg vorbeigehen werde. Ein weiteres dreiviertel Jahr später hatte sich die Welt verändert, Deutschland war wiedervereinigt und Ende Oktober 1990 fand die 100. Sitzung des NATO-Militärausschusses statt. Admiral Wellershoff trug vor, wie Deutschland die Vereinigung im militärischen Bereich gestalten wollte. Die eigentliche Sensation aber war, dass für den zweiten Sitzungstag der sowjetische Generalstabschef als Gast geladen war. Armeegeneral Moissejew stellte in seiner Grußadresse die Bedeutung der Wiedervereinigung heraus – natürlich in der sowjetischen Perzeption. Ein neuer Staat sei entstanden, das vereinte Deutschland, das in einem vereinten Europa aufgehen werde, in dem es keine Notwendigkeit mehr für die Stationierung ausländischer Truppen gebe. Der NATO bleibe nach dieser positiven Entwicklung keine Aufgabe mehr, deshalb solle man sich bald mit dem Warschauer Pakt über eine beiderseitige Auflösung einigen.

Beim dem Gegenbesuch Armeegeneral Moissejews in Bonn drei Wochen später wurde nicht nur die allgemeine Weltlage diskutiert, sondern vor allem die Konsequenzen der deutschen Vereinigung und der Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland. Die zwischen Admiral Wellershoff und Armeegeneral Moissejew bereits in Moskau 1989 vereinbarten gegenseitigen Besuche und Kontakte funktionierten auf der oberen Ebene anfangs gut – im Gegensatz zu den geplanten Truppenkontakten. Es war offensichtlich, dass die russische militärische Führung kein Interesse daran hatte, ihre Soldaten mit liberalen westlichen Ideen infizieren zu lassen. So waren die mit viel Engagement begonnenen Vorhaben schon nach wenigen Jahren weitgehend versandet.

Mit dieser Darstellung der Entwicklung der Beziehungen wollte der Verfasser aufzeigen, dass der sowjetischen militärischen Führung im Rahmen der sicherheitspolitischen Umwälzungen Ende der 90er Jahre von deutscher Seite von Beginn an die Hand gereicht wurde. Bestehende Feindbilder wurden abgebaut. Die Nachhaltigkeit dieser Annäherung ließ allerdings zu wünschen übrig. Auf eine breite Resonanz in den sowjetischen und später russischen Streitkräften schien die Bereitschaft zu einer gedeihlichen dauerhaften Zusammenarbeit nicht gestoßen zu sein.

Beziehungen zwischen NATO und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges

Generalleutnant a.D. Kurt Herrmann, der als Leiter der NATO Military Liaison Mission in Moskau von 2005 bis 2008 mit der Thematik besonders vertraut ist, stellte die Entwicklungen der Beziehungen zwischen der NATO und Russland nach der sicherheitspolitischen Wende und dem Ende des Kalten Krieges dar.

GenLt a.D. Kurt Herrmann

Ausgangspunkt dafür seien die Londoner-Erklärung vom 6. Juli 1990 vor allem die Charta von Paris für ein neues Europa gewesen, mit der im Rahmen der KSZE die Grundlagen für eine neue friedliche Ordnung in Europa nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende der Ost-West-Konfrontation gelegt wurden. 32 europäische Staaten – darunter die Sowjetunion und alle osteuropäischen Länder – sowie die USA und Kanada verpflichteten sich mit der Unterzeichnung am 21. November 1990 in Paris zur Demokratie und zur Wahrung der Menschenrechte. Die Charta beendete somit die Spaltung Europas. Allen europäischen Staaten wurde das Recht auf Souveränität und territoriale Integrität sowie eine freie Bündniswahl zuerkannt.

Die Auflösung des Warschauer Paktes (WP) – formell am 1. Juli 1991 – und der Zerfall der Sowjetunion bis Ende 1991 veränderten die Landkarte Europas grundlegend. Die NATO, die schon zuvor den Staaten des WP eine freundschaftliche Zusammenarbeit angeboten hatte, schuf 1991 mit dem Nordatlantischen Kooperationsrat ein neues Gremium zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit den ehemaligen Staaten des WP sowie den GUS-Staaten.

Die angebotene Zusammenarbeit konkretisierte sich drei Jahre später in dem Programm Partnership for Peace, dem neben neutralen europäischen Staaten nahezu alle ehemaligen Republiken der Sowjetunion, darunter auch Russland und die Ukraine, beitraten.

Um der besonderen Bedeutung Russlands Rechnung zu tragen, wurde ihm eine privilegierte Partnerschaft angeboten, die formell 1997 in der NATO-Russland-Grundakte ihren Niederschlag fand. Durch Abrüstung, vertrauensbildende Maßnahmen und vertiefte Zusammenarbeit im Rahmen der OSZE sollte eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in wichtigen internationalen Fragen mit dem Ziel erreicht werden, einen gemeinsamen Sicherheits- und Stabilitätsraum zu schaffen. Zu den Grundsätzen, auf die man sich – ganz im Sinne der Charta von Paris – einigte, gehören u.a.

  • “Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat” sowie
  • “Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker selbst zu wählen”.

Von Russland wurde darüber hinaus erwartet, den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und die politische und wirtschaftliche Transformation fortzusetzen. Die NATO verzichtete auf die Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten der NATO in Osteuropa und stimmte einer (konditionierten) Limitierung von NATO-Kräften, nämlich “keine dauerhafte Stationierung schwerer Kampfverbände” – in diesen Ländern zu.

Nach Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte (1997) wurde die Russische Mission beim NATO-Hauptquartier in Brüssel eingerichtet und der Ständige Gemeinsame Rat – “Permanent Joint Council (PJC)” – im Format 19+1 gegründet. Allerdings, in Folge des NATO Lufteinsatzes über dem ehemaligen Jugoslawien von März bis Juni 1999, kühlten die militärischen Beziehungen für eine ganze Weile deutlich ab.

Nach dem 11. September 2001 kam es dann zu einer erneuten Annäherung. Russland richtete endgültig eine eigenständige Mission bei der NATO in Brüssel und SHAPE/Mons ein, und die NATO eröffnete das NATO Information Office (NIO) in Moskau.

Um die Ziele der NATO-Russland Grundakte zu verwirklichen, wurde auf dem NATO Gipfel in ROM im Mai 2002 die Einrichtung des NATO-Russland-Rates (NRR) beschlossen. Der NRR sollte als Dialogforum für Sicherheitsfragen dienen und die praktische Kooperation für ein breites Spektrum an Themen und Vorhaben steuern. Im NRR sollten die Beteiligten in direkter Verbindung stehen und sich gegenseitig sowohl regelmäßig in Routineangelegenheiten als auch bei Bedarf im Fall von Spannungen konsultieren. Dies ist jedoch im Georgienkonflikt und später auch nach der Krim-Annexion so gut wie nicht mehr geschehen.

Die NATO Military Liaison Mission (MLM) wurde im Mai 2002 in Moskau eröffnet. Sie hatte das Bündnis gegenüber dem russischen Verteidigungsministerium und dem Generalstab zu vertreten. Die MLM unterstützte bis 2013 vor allem den Militärausschuss der NATO, den Internationalen Stab sowie den Internationalen Militärstab und die Strategischen Kommandos (ACO und ACT) bei der Definition und Implementierung der militärischen Kooperationsprogramme des NATO-Russland-Rates. Darüber hinaus hielt die MLM Verbindung mit anderen Organisationen und Stellen in Moskau, die sich speziell mit russischer Sicherheitspolitik und Streitkräften befassen. Die MLM unterhielt außerdem enge Kontakte zu den Botschaftern und Verteidigungsattachés in Moskau.

In der NATO-Russland-Grundakte wurde gewürdigt, dass Russland seine Truppen vollständig aus den osteuropäischen Staaten abgezogen und seine in Kasachstan, Belarus und der Ukraine stationierten Nuklearwaffen zurückgeführt hatte. Dies war auf der Grundlage des Budapester Memorandums von 1994 geschehen, in dem sich Russland im Gegenzug zur Übergabe der Nuklearwaffen u.a. verpflichtete, die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Länder zu

NATO-Osterweiterung

General a.D. Schuwirth, von 1994 bis 1996 Abteilungsleiter Militärpolitik in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der NATO und im Anschluss bis 1999 Stabsabteilungsleiter Militärpolitik im Führungsstab der Streitkräfte, hat in diesen Funktionen die Öffnung der NATO nach Osten – wie es statt Osterweiterung eigentlich heißen müsse – eng begleitet. Er verzichtete auf die Darstellung der einzelnen Beitrittsrunden und konzentrierte sich auf die Grundsätze.

Schon zu Beginn der 90er Jahre hatten Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn die Visegrád-Gruppe gebildet und begonnen, die Annäherung an die EU und die NATO voranzutreiben sowie ihre Militärreformen an NATO-Standards auszurichten. Die USA und wohl auch die Mehrheit der NATO-Mitglieder standen anfangs einem Beitritt – nicht nur wegen der russischen Ablehnung eines solchen Schrittes – durchaus skeptisch bis ablehnend gegenüber. Als sich der Beitrittswunsch der genannten Staaten zunehmend verfestigte, wurden in einer NATO-Beitrittsstudie die dafür erforderlichen Voraussetzungen und Bedingungen untersucht. Den russischen Interessen sollten durch die schon erwähnte privilegierte Partnerschaft im Rahmen des NATO-Russland-Rats Rechnung getragen werden. Aus der Studie erwuchs im Oktober 1995 ein Membership Action Plan mit Auflagen, die mögliche Beitrittskandidaten abzuarbeiten hatten. Auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 wurden den genannten Staaten Beitrittsverhandlungen angeboten, die dann 1999 zum Vollzug des Beitritts Polens, Tschechiens und Ungarns führten. Die Baltischen Staaten folgten 2004.

Russland habe zwar die Öffnung der NATO nach Osten abgelehnt, es aber nicht zu einer ernsthaften Kontroverse kommen lassen. Während der gesamten Zeit habe man durchaus gute Arbeitsbeziehungen auf verschiedenen Ebenen zur russischen Seite unterhalten, z.B. regelmäßige Treffen der Verteidigungsminister, der Stäbe und einzelner Truppenteile. Insgesamt habe man den Eindruck gehabt, dass die russische Ablehnung mehr nach innen als nach außen gerichtet gewesen sei. Der große Stimmungsumschwung im Verhältnis Russlands zur NATO sei erst in der „Wutrede“ Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 erkennbar geworden.

Verschlechterung des Verhältnisses NATO – Russland ab 2006

Generalleutnant a.D. Herrmann bestätigte aus seinen Erfahrungen in Moskau die Bewertungen der russischen Haltung. Der NATO-Beitritt der ehem. Staaten des WP und – durchaus schmerzlicher – der Baltischen Staaten sei zwar abgelehnt worden, habe sich aber auf die Arbeitsbeziehungen zunächst nicht entscheidend ausgewirkt. Die “Mil-to-Mil Beziehungen” zwischen NATO-Russland hätten sich in den Jahren 2003 bis 2006 sogar durchaus positiv und erfolgversprechend entwickelt. Die MLM habe in dieser Phase zahlreiche Konferenzen, Trainings-, Übungs- und andere Vorhaben unterstützen können. Die Qualität der Zusammenarbeit sei jedoch personenabhängig gewesen.

Eine deutliche Verschlechterung des Klimas sei allerdings nach den 2006 durch den amerikanischen Präsidenten angekündigten – und durchaus umstrittenen – Plänen für einen Raketenschirm in Mitteleuropa eingetreten. Dieser Raketenschirm sollte Europa vor einer möglichen Bedrohung durch Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 3.000 Kilometer schützen, etwa aus dem Iran. Trotz der angebotenen Zusammenarbeit in diesem Bereich habe die russische Seite dies als eine gegen Russland gerichtete Provokation betrachtet. Diese habe zunächst zu einer deutlichen Verlangsamung und schließlich zu einer Stagnation der “Mil-to-Mil Aktivitäten” geführt.

Die russische Haltung gegenüber der NATO war ab 2007 allerdings auch zunehmend beeinflusst von einer verhärteten russischen Haltung zum KSE-Vertrag, zu US-Plänen zur Stationierung von US-Streitkräften in Rumänien und Bulgarien, zur fortschreitenden NATO-Erweiterung und zum künftigen Status des Kosovo. Russlands unverhältnismäßiges militärisches Eingreifen in Georgien im August 2008 führte dazu, dass seitens der NATO die formalen Treffen des NRR und auch die praktische Kooperation in einigen Bereichen bis Frühjahr 2009 ausgesetzt wurden. Beim Gipfeltreffen des NRR in Lissabon am 20. November 2010 wurde erneut ein Versuch zur Wiederbelebung der Kooperation (bzw. “Strategischen Partnerschaft”) zwischen der NATO und Russland unternommen. Auf diversen Feldern wurden neue Projekte von gemeinsamem Interesse initiiert.

Nach mehrfachen Unterbrechungen infolge der Georgienkriege (2008 und 2016) und des Ukrainekrieges (2014) fand 2019 erstmalig wieder eine Sitzung des NATO-Russland-Rates statt. Bis zur erneuten Sitzung am 12. Januar dieses Jahres hatte Moskau über zweieinhalb Jahre hinweg jedes Gesprächsangebot der NATO ausgeschlagen. Im vergangenen Jahr hatte Russland sogar seine Vertretung bei der NATO geschlossen und die Schließung der militärischen Verbindungsmission der NATO in Moskau erzwungen.

Die zunehmend anti-westliche, eher revanchistische und nationalistische Ausrichtung der russischen Außenpolitik seit Putins erneuter Präsidentschaft ab 2012 zeigte sich auch an folgenden Entwicklungen:

  • Deutliche Zunahme von Cyber-Angriffen russischen Ursprungs und eine wachsende hybride Bedrohung. Markante Beispiele aus einer umfangreichen Liste sind der im Mai 2015 entdeckte Hackerangriff auf den deutschen Bundestag, die Beeinflussung der BREXIT-Entscheidung und die Einmischung in den US-Präsidentschaftswahlkampf 2016.
  • Das militärische Engagement Russlands in Syrien, Libyen, Kasachstan und – zumindest mit Wagner-Söldnern – auch in Zentral- und Westafrika, zuletzt in Mali.
  • Russlands Verstöße gegen den Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag), die das Ende dieses Vertrags im August 2020 maßgeblich herbeigeführt haben. Auch seine destruktive Haltung zum “Open Skies Vertrag” und Wiener Abkommen (Wiener Dokument 2011 der Verhandlungen über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen der OSZE), die entscheidend zur Aushöhlung der Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen beigetragen hat.
  • Der enge Schulterschluss mit China auch in den Vereinten Nationen.
  • Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der seit 2014 mit der Ukraine herrschende latente Krieg als Vorstufe zu dem am 24. Februar dieses Jahres begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Damit hat das NATO-Russland-Verhältnis seinen vorläufigen Tiefpunkt erreicht.

Resümee

Der Leiter des RK WEST fasste die Aussagen – erklärtermaßen ein wenig holzschnittartig – wie folgt zusammen:
Eine Bedrohung Russlands durch die NATO kann ernsthaft nicht behauptet werden. Die Einlösung der “Friedensdividende” nach Ende des Kalten Krieges hatte in nahezu allen NATO-Staaten zu extremen Einschnitten geführt. Die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung, ja zum hochintensiven Gefecht auf Großverbandsebene, ist in den ersten 25 Jahren nach der sicherheitspolitischen Wende in Europa aufgegeben worden. Sie wird erst seit 2014 in einem langwierigen Prozess, der noch Jahre beanspruchen wird, wieder aufgebaut. Von einer Einkreisung Russlands durch die NATO kann schon aufgrund der Geographie keine Rede sein.

Die NATO als eine Allianz souveräner Nationen ist darüber hinaus schon aufgrund der politischen und Gesellschaftsstrukturen ihrer Mitgliedsstaaten zu keinem Angriffskrieg fähig. Putin und die politische Führungsschicht Russlands werden dies ebenso bewerten. Die NATO als Drohkulisse diente vielmehr innenpolitisch dem Machterhalt Putins und seiner kleptokratischen, mafiösen Clique.

Der imperiale Anspruch Russlands wurde seit dem Georgienkrieg 2008 immer offenkundiger und hätte spätestens seit der Annexion der Krim 2014 deutlicher erkannt werden müssen. Die NATO hat mit den Beschlüssen der Gipfeltreffen von Wales und Warschau (2014 bzw. 2015) zwar Konsequenzen aus dem russischen Verhalten gezogen, aber zumindest Deutschland hat die komplette Umsetzung dieser Beschlüsse über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren gestreckt. Zugleich wurde die Abhängigkeit von Russland auf dem Energiesektor nicht abgebaut, sondern verstärkt.

Wer den Charakter und die Skrupellosigkeit Putins und seines Systems bis zum Überfall auf die Ukraine nicht erkannt hatte, muss sich angesichts des russischen Vorgehens in Grosny, Georgien, Aleppo, bei der Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten im Donbass ein beträchtliches Maß an Realitätsverweigerung vorwerfen lassen. Die Methoden und Ziele Putins wurden im RK WEST bereits am 29. 04. 2014 in einem Vortrag des Gesandten a.D. Joachim v. Arnim zum Thema “Russische Politik in der Ära Putin” klar benannt.

Aussprache

In der thematisch breit gefächerten Aussprache wurden die behandelten Themen vertieft und insbesondere die Frage angerissen, wie der Krieg in der Ukraine beendet werden könne.

Jürgen Ruwe
Generalleutnant a.D.