Die Ukraine im sechsten Kriegsjahr – gegen Russland – Artikel von GenLt a.D. Dr. Olshausen

Russland nicht zu verprellen ist kein Weg zur Herstellung der Souveränität der Ukraine

Beim Zusammenkommen der Regierungschefs des sog. ‚Normandie-Formats’ (N4) in Paris am 9. Dezember 2019 – mitten im sechsten Kriegsjahr in der Ostukraine – trafen ein neuer David, Präsident Selenskyj, und ein machtbewusster Goliath, Präsident Putin, aufeinander. Anders als in der Geschichte mit der Steinschleuder Davids braucht Präsident Selenskyj für das Standhalten gegen einen offensiven Goliath Frankreich und Deutschland, ja EU und NATO, nicht als „Vermittler“ sondern als Verfechter der territorialen Integrität der Ukraine. Das war jedenfalls der erkärte Zweck der Politik, den all diese Länder im Frühjahr 2014 verkündeten.

Bei diesem N4 Treffen, zu dem Präsident Macron eingeladen hatte, standen ‚nur’ Teile der seit vier Jahren ausstehenden Umsetzung der ‚Vereinbarung’ von Minsk vom 12. Februar 2015 (Minsk II) mit ihren 13 Punkten auf der Tagesordnung.

Über vier Jahre hat sich bestätigt, was schon im Februar 2015 deutlich sichtbar war, dass Minsk II für Putin eine solide Basis bildete, die Destabilisierung des großen Nachbarlandes Ukraine nach eigenem Ermessen zu verstärken oder einfach abzuwarten. Die Ukraine musste 2015 diese 13 Punkte hinnehmen – auch auf Drängen von Hollande und Merkel – da das Land zu schwach war, um sich gegen die russisch geführten und ausgerüsteten Separatisten militärisch erfolgreich zu wehren, zumal westliche Staaten der NATO und der EU ihr militärisch wirksame Hilfe verweigerten.

Am 9. Dezember konnten die vier Regierungschefs über viele dieser Punkte sprechen. Und beim Gefangenenaustausch, der Rücknahme schwerer Waffen entlang der Kontaktlinie und der Herstellung eines dauerhaften Waffenstillstandes konnten sie teilweise Einigung erzielen.

Aber solange Frankreich und Deutschland in der öffentlichen und in Putins Wahrnehmung als ‚Vermittler’ –in einer quasi Äquidistanz zu beiden Konfliktparteien – auftreten, wird der politische Zweck, zu dem sich beide Staaten mit EU und NATO bekannt, ja verpflichtet haben, die Souveränität und territoriale Integrität (SuTI) der Ukraine zu sichern, ja weder herzustellen, noch zu verwirklichen sein.

Natürlich werden alle Beobachter und Beteiligten, v.a. aber die Bevölkerung in der Region Donbass alle Maßnahmen begrüßen, die einen dauerhaften Waffenstillstand sichern, die Entflechtung der schweren Waffen voranbringen, das Minenräumen in Angriff nehmen und nicht zuletzt einen zügigen Austausch aller Gefangenen („all for all“) erreichen. Das wird für die Bevölkerung Erleichterung schaffen.

All dies verringert aber nicht die reale Präsenz und massive Unterstützung Russlands in und für die sog. ‚Volksrepubliken’ Donetzk und Luhansk. Und es bleibt dabei, dass die Ukraine keinerlei eigenen administrativen Zugang und Präsenz in diesen Gebieten wahrnehmen kann.

Am schwerwiegensten erscheint, dass mit der „Einigung“ auf eine sog. ‚Steinmeier-Formel’ erneut drastische Erwartungen an Kiew geschürt werden und der Kreml die Möglichkeit hat, alles was ihm in Sachen Sonderstatus und Vorbereitung von Kommunalwahlen nicht passt, der Ukraine als „Nichterfüllung“ von Minsk II vorzuhalten. Aus Sicht einer souveränen Ukraine (und der dieses als Ziel ausgegebenen Staaten der EU und der NATO), kann die Ukraine diese Forderungen erst erfüllen und umsetzen, wenn nicht nur eine Dezentralisierung für das ganze Land, einschl. des Donbass formuliert ist, sondern von der Regierung in Kiew auch im gesamten Donbass, einschl. des Gebiets der sog. Volksrepubliken verantwortlich umgesetzt wird. Es ist anzunehmen, dass diese von Selenzkyi vorgesehene Vorgehensweise und die in völligem Gegensatz dazu stehende Position Putins den Hintergrund der Bemerkung von Kanzlerin Merkel vor der Presse bildet, dass noch sehr „dicke Bretter zu bohren“ sein werden.

Vor der Presse in Paris hat Präsident Selenskyj für diese schwierigste Phase eine klare Position der Ukraine vorgetragen: Wahlen im Donbass für alle Ukrainer, die in der Region leben und von dort während des Konflikts geflohen sind, keine fairen und freien

Wahlen nach ukrainischem Recht, ohne dass die administrative Kontrolle der gesamten Grenze zu Russland bei der Ukraine liegt.

Darauf ging Putin nicht ein, da er ja ständig unterstreicht, dass er nicht „Partei des Konfliktes“ sei. Sondern er wiederholt seine Standardposition, dass Kiew (nun endlich) direkte Gespräche mit den Vertretern der sog. Volksrepubliken Donetzk und Luhansk aufnehmen müsse.

Das ist für Selenskyj kaum möglich, da diese Vertreter das als eine gewisse Anerkennung ihrer Autorität, ja Legitimität auslegen werden. Das heißt, dass alle weiteren Schritte zur Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine formal durch Putins Forderung für das Verfahren erschwert, ja blockiert scheinen. Und die zweite Ebene von Putins Widerstand gilt allen Maßnahmen zur Dezentralisierung, die der Donetzk und Luhansk Region kein Veto für jede weitere Politik Kiews zur Annäherung an EU oder gar NATO zubilligt.

Wenn also die Staaten der EU und der NATO dem ‚David’ Selenskyj nicht die sprichwörtliche Schleuder ermöglichen, sich gegen Goliath zu behaupten, dann wird die Ostukraine auf unabsehbare Zeit ein ‚heißer’ oder eingefrorenen Konflikt nach Putins Belieben bleiben.

Da Putin weiter behauptet, nicht Partei zu sein und dass es keine russische Militärpräsenz in der Ukraine gebe, besteht die „Steinschleuder“ zunächst in folgendem gemeinsamen Vorgehen der Staaten der EU und der NATO, das schon vor zwei Jahren angesagt war und zwar ein Paket von drei Maßnahmen[1]

  1. Russland selbst oder die OSZE müssen die Ukraine Grenze im Separatistengebiet für militärische Güter und Personal wirksam schließen.
  2. Die 2016 beschlossene bewaffnete OSZE Mission muss robust, für das gesamte Gebiet und 24/7 eingerichtet werden.
  3. Falls 1. und 2. am russischen Handeln scheitern, sind Sanktionen gegen Russland von der EU und den USA und die verstärkte militärische Unterstützung der Ukraine durch die NATO Staaten zu beschließen.

Wenn der politische Zweck, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu sichern, (noch) gilt, sind diese Ziele mit allen verfügbaren Mitteln nachdrücklich zu verfolgen und ist keine Lähmung durch Selbstabschreckung zuzulassen.

Allerdings bleiben – wie schon 2015 – durchaus Anzeichen, dass der ‚Westen’ weder den Willen hat noch die erfolgversprechenden Mittel sieht, seinen erklärten politischen Zweck, für die Charta von Paris im allgemeinen einzutreten und deshalb die SuTI der Ukraine zu sichern. Putin würde daraus nicht schließen, dass er ein ‚ordentliches Ergebnis’ mit einer Ukraine in seinem Einflussbereich erzielt hat, sondern diese Abweichung/Aufgabe des ‚Westens’ von seinem ursprünglichen politischen Zweck als Ansporn sehen, sich weitere macht- und geopolitische Ziele zu setzen.

Sollte der ‚Westen’ also seinen Kraftaufwand (z.B. der Sanktionen) in dieser Krise für so groß halten, dass er dem Wert seines oben genannten Zweckes nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so wird dieser aufgegeben werden und ein (ungünstiger) ‚Friede’, v.a. für die Ukraine, die Folge sein.

[1]  Zu den folgenden Bemerkungen s. auch meine Beiträge vom Juli 2015 (Nr 363, ISPSW Strategy Series: Focus on Defense and International Security) und Febraur 2017(Nr. 473, ISPSW Strategy Series: Focus on Defense and International Security)

Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen

Die Erstveröffentlichung ist in der Zeitschrift “Behördenspiegel” erfolgt, Ausgabe 253 vom 19.12.2019.

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