“Chinas innere Stabilität und äußere Sicherheit – die Politik des Managements komplexer Widersprüche”

Kurzfassung des Vortrags vom 19. 02. 2015, Dr. Oliver Corff

Faktoren Innerer Stabilität Chinas

Die gesellschaftliche Stabilität Chinas ist zentrales Anliegen der chinesischen Staats- und Parteiführung. Gesellschaftliche Stabilität beruht wesentlich auf Wirtschaftswachstum, der beständigen Schaffung neuer Arbeitsplätze (pro Jahr müssen angesichts des anhaltenden Bevölkerungswachstums ca. 8 – 10 Mio. Arbeitsplätze neu geschaffen werden), sowie der Reduzierung verschiedener Disparitäten, wovon die deutlichste Diskrepanz im Lebensstandard zwischen der wohlhabenden Ostküste Chinas und dem in der Entwicklung hinterherhinkenden Zentral- und Westchina ist. Die Schaffung eines positiven Wirtschaftsklimas wird von Staats- und Parteiführung als wesentlicher Legitimationsfaktor wahrgenommen; politische Stabilität ist demzufolge gesellschaftliche Stabilität. Der Ruf nach politischem Pluralismus wird in diesem Kontext nicht als stabilitätsfördernd gesehen.

Elemente Äußerer Sicherheit

China betrachtet alle Fragen territorialer Integrität als Kerninteresse. Dies betrifft sowohl die Wahrung der territorialen Integrität (Xinjiang und Tibet) als auch die Wiederherstellung der Integrität (angestrebte Wiedervereinigung mit Taiwan). Die Ansprüche Chinas im Ost- und Südchinesischen Meer werden von den Anrainerstaaten nicht anerkannt. Im Aufbau seiner regionalen Vormachtstellung nimmt China als Herausforderer und ebenbürtigen Antagonisten nur die USA als beherrschende Kraft im Pazifikraum wahr, nachdem mit dem Ende des Kalten Krieges die ehemalige UdSSR als Machtfaktor des Strategischen Dreiecks (gemeint ist die Dreiecksbeziehung USA-China-UdSSR, nicht der gleichlautende Begriff aus dem Strategischen Management) entfallen ist. Ein weiterer Aspekt Äußerer Sicherheit ist die Sicherung des Zugangs zu Märkten und Rohstoffquellen (politisch wie physisch) sowie der benötigten Transportwege.

Zielkonflikte und Widersprüche

Aus der Perspektive des klassischen chinesischen Staatswesens besteht kein wirklicher Unterschied zwischen diesen beiden Sphären, was auch im modernen chinesischen Sprachgebrauch sofort erkennbar ist. Die Öffnungs- und Reformpolitik Deng Xiaopings betrachtet Öffnung (zum Ausland) als notwendige Bedingung für (Wirtschafts-)Reform im Inland, und die wachsende Wirtschaftskraft im Gegenzug als Motor Auswärtiger Beziehungen. Die dialektische Einheit von Reform und Öffnung spiegelt sich nicht nur in dieser Bezeichnung wieder, sondern zieht sich als roter Faden durch den gesamten wirtschafts- und außenpolitischen Diskurs chinesischer Politiker.

Zielkonflikte treten offen zutage; das hohe Wirtschaftswachstum hat in Verbindung mit niedrigen technologischen Standards und nur punktuell durchgesetzten administrativen Vorgaben zu enormen Umweltproblemen geführt, deren Bekämpfung substantielle Anteile des volkswirtschaftlichen Zugewinns verzehrt. Eine wichtige Rolle spielt auch die von der chinesischen Regierung als ungenügend eingestufte Innovationsfähigkeit.

Widersprüche erwachsen aus den bereits genannten Kerninteressen Chinas. Deutlich wird dies am Beispiel Taiwans, das von der Volksrepublik China als Innere Angelegenheit definiert ist. Mit dem Anti-Sezessions-Gesetz von 2005 hat sich die Volksrepublik ermächtigt, gegen echte Unabhängigkeitsbestrebungen Taiwans mit Waffengewalt einschreiten zu können. Dies ist auch einer der Hauptaufträge der Volksbefreiungsarmee. Da die USA jedoch nicht nur historisch in mehrfach sehr angespannter Beziehung zur Volksrepublik China stehen, sondern gleichzeitig auch militärische Schutzmacht Taiwans sind, ist diese Innere Angelegenheit tatsächlich auch eine Äußere Angelegenheit. Nicht nur aufgrund des in der Vergangenheit sehr belasteten Verhältnisses (atomare Drohung gegen VR China während des Koreakriegs, mehrere Taiwankrisen, Bombardierung der VR Chinesischen Botschaft in Belgrad durch NATO-Kräfte), sondern auch durch die Präsenz der USA im Pazifikraum hat die VR China in Bezug auf die USA eine ausgeprägte Bedrohungsperzeption und fühlt sich in der Entfaltung ihrer Regionalhegemonie gestört. Gleichzeitig ist jedoch die wirtschaftliche Verflechtung so stark, daß die positiven Interessen aus Sicht der chinesischen Regierung jederzeit überwiegen, was im insgesamt pragmatischen Umgang miteinander während vergangener Krisen ablesbar ist; militärische Konflikte wurden bisher stets zugunsten der beiderseitigen strategischen Interessen rasch beigelegt. Die Beziehungen sind jedoch so komplex, daß auch in der jüngeren Vergangenheit vielfache Deutungsversuche und Begriffsprägungen stattgefunden haben: weder Freund noch Feind, sowohl kooperierend als auch konkurrierend, etc. In der höchsten möglichen Steigerung wird dann von „G2“ oder „Chimerika“ gesprochen, während andere Autoren das Bild des „Peaceful War“ bemühen.

Darüberhinaus ist die VR China zwar Mitglied des UN-Seerechtsübereinkommens UNCLOS (Beitritt und Ratifikation im Jahr 1996), besteht aber auf bilateraler Klärung mit den Anrainerstaaten bezüglich der Dispute im Ost- und Südchinesischen Meer.

Im Bereich internationaler militärischer Kooperation verändert sich die Haltung Chinas: während noch bis vor wenigen Jahren militärische Bündnisse kategorisch ausgeschlossen wurden (der Freundschafts- und Verteidigungspakt mit Nordkorea von 1961, der bis heute besteht, wird in diesem Kontext nie thematisiert), ist heute die fallweise militärische Kooperation im Rahmen internationaler Einsätze möglich, wie die erfolgreiche Teilnahme der Marine der VBA im Kampf gegen die Piraterie am Horn von Afrika seit 2008 zeigt.

Deutliche Unterschiede zeigen sich im Umgang Chinas zwischen benachbarten und weiter entfernten Staaten. Während die Beziehungen beispielsweise mit Deutschland sich hervorragend entwickeln, sind sie mit Nachbarländern gelegentlich von Friktionen und Spannungen geprägt, die durchaus als Erbe der kulturellen Dominanz des chinesischen Kaiserreiches gesehen werden können.

Politische Antworten

China entwickelt im politischen Diskurs im In- und Ausland verschiedene Bilder und Vorstellungen, um seine Leitideen zu kommunizieren und im Idealfall auch durchzusetzen. Nach innen ist dies aktuell der „Chinesische Traum“, der analog zum „American Dream“ verstanden werden kann; nach außen würde ein solches Bild wohl kaum auf uneingeschränkte Akzeptanz stoßen, von daher wird seit ca. einem Jahr mit dem Begriff der „Schicksalsgemeinschaft“ (mingyun gongtongti) operiert, der von China nicht nur auf die Pazifikregion, sondern auch konkret auf die bilateralen Beziehungen zu Einzelstaaten bezogen wird.

Ein wirkmächtiges Instrument sind außerdem verschiedene Narrative, so ein Kontinuitätsnarrativ, das weit in die chinesische Vergangenheit ausholt, um gegenwärtige politische Positionen zu bekräftigen, und weiterhin ein Opfer- oder Leidensnarrativ, das bestimmte Phasen der Geschichte (etwa das „Jahrhundert der Schande“) als Rechtfertigung für politisches Handeln heranzieht.

Diese Bilder, Vorstellungen und Narrative sind jedoch nur Mittel zum Zweck. Der eigentliche Kernbegriff, der zum Verständnis des strategischen Handelns Chinas in puncto aller oben angeschnittenen Fragen beizutragen vermag, ist der Begriff der Umfassenden Nationalen Kraft („Comprehensive National Power“, chin. zonghe guoli, im folgenden als CNP abgekürzt). In moderner chinesischer Definition bezeichnet CNP die aus der nationalen Leistungsfähigkeit (zu verstehen primär im wirtschaftlichen Sinne) sowie dem internationalem Einflußvermögen gebildete umfassende Leistungsfähigkeit, von der ein Staat für seine Existenz und seine Entwicklung abhängt. Das Konzept der Meß- und Vergleichbarkeit von Nationalstaaten wurde ursprünglich von westlichen Denkern entwickelt und in den 1980er Jahren in China eingeführt. Anhand der Regierungsberichte des Staatsrates der VR China läßt sich gut nachvollziehen, wie sich das Konzept dieses Begriffs von der reinen volkswirtschaftlichen Kennzahl weiterentwickelt hat. Wurde anfangs nur eine Steuerung im Sinne ausgewogener, volkswirtschaftlich gesunder Wirtschaftsentwicklung damit verbunden, so wird das Konzept seit den 1990er Jahren im weiter ausgebaut und um zahlreiche Merkmale staatlicher Leistungsfähigkeit erweitert: so gehört dazu heute die bemannte Raumfahrt und die Monderkundung ebenso wie die nationale und internationale Krisenreaktionsfähigkeit: national etwa im Umgang mit SARS 2003, international die erfolgreiche Bewältigung der Finanzkrise von 2008. Schließlich finden auch Innovation sowie die Modernisierung von Landesverteidigung und Streitkräften Eingang in dieses Konzept (alle genannten Beispiele sind Regierungserklärungen entnommen). In der Gesamtschau wird sichtbar, daß die Prioritätensetzung Chinas sich eng an die Berechnungsgrundlage der CNP anlehnt; welcher Faktor auch immer in den verwendeten Formeln betrachtet wird, er wird mit Sicherheit zur nächsten Entwicklungspriorität Chinas, wenn das Land der Überzeugung ist, in einem Punkt schwach zu erscheinen.

Insgesamt erweist sich China, wie auch in vielen anderen Bereichen, als höchst lernfähiges System, das in der Lage ist, wissenschaftliche Erkenntnis stringent in politisches und strategisches Handeln umzusetzen.

 

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