Besprechung des Buches: Clausewitz‘ Verständnis von Strategie im Spiegel der Spieltheorie

Die Clausewitz-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg ist dank der Arbeiten Werner Hahlwegs, dem langjährigen Nestor der Clausewitz-Forschung, wesentlich von einer interdisziplinären Vielfalt kennzeichnet. Dies lässt auf einer ganz anderen Ebene Verständnis für Clausewitz’s Theorie und Lehren gewinnen sowie diese im Hinblick auf die heutigen Fragen zu Politik und deren militärischer Macht prüfen und beurteilen.

Damit habe, wie Hahlweg im Nachwort zur 19. Auflage von Clausewitz‘ „Vom Kriege“ nicht unberechtigt mit Stolz für sich reklamiert, die Beschäftigung mit Clausewitz eine neue Stufe erreicht: „In diesem Sinne darf wohl die nahezu universale, weiterführende Hinwendung zu Clausewitz und seinem Werk, die Intensivierung der Auseinandersetzung mit seinen Gedanken namentlich in den letzten beiden Jahrzehnten als Clausewitz-“Renaissance“ gewertet werden; man gewinnt den Eindruck, jetzt erst wird Clausewitz in seiner eigentlichen Bedeutung gerade im Lichte der heutigen Bedingtheiten von Gesellschaft, Politik, bewaffnetem Kampf, Ökonomie und Friedensordnung begriffen.“ Dies ist eine hohe Messlatte für alle, die sich heute an „Clausewitz“ wagen. 

Im Laufe der Jahre bildete sich um Hahlweg eine mehr oder weniger direkt mit ihm verbundene Clausewitz-„Schule“, die sich mit Veröffentlichungen und Dissertationen zu Clausewitz aus sehr unterschiedlichen neuen Perspektiven hervorgetan hat. In diese Reihe fügt sich nun auch Holger Müller mit seiner Dissertation „Clausewitz‘ Verständnis von Strategie im Spiegel der Spieltheorie“ ein.

Müller geht es um Fragen der Entscheidungstheorie, speziell der „Entscheidungsfindung in Situationen interdependenter Handlungskonsequenzen“. Dazu verbindet er zwei große Themen aus den Disziplinen der Politikwissenschaft (Strategie) sowie der Wirtschaftswissenschaft (Spieltheorie) und stellt dies unter einen Ausspruch von Friedrich Schiller zum <homo ludens> aus dessen Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, der zu einem Leitgedanke der Erziehungswissenschaft geworden ist. Diese spannende Dreiheit lässt sich aus Müllers beruflichem Werdegang als ehemaliger Generalstabsoffizier der Bundeswehr, Diplom-Kaufmann sowie Dozent an der Führungsakademie und langjähriger Kommandeur einer Heeres-Schule für den Offizier- und Unteroffizier-Nachwuchs erklären.

Der Ausgangspunkt für die breit angelegte Arbeit ist das Thema Spieltheorie. Sie ist im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich im Laufe des 20. Jahrhunderts als Analyseinstrumentarium für Entscheidungsprobleme entwickelt und dann besonders in den Zeiten des Kalten Krieges weiterentwickelt und auf politisch-strategische Probleme bis hin zu Fragen der Rüstungssteuerungspolitik übertragen worden. Die Darstellung geht schrittweise vom einfachen „Gefangenendilemma“ und Nullsummenspiel bis hin zu dynamischen Spielen mit asymmetrischen Informationsständen und zum Bayesianischen Nash-Gleichgewicht mit komplizierteren Spielbäumen, die der komplexen Realität immer näher kommen. Ziel der Theorie sei es, dass „alle überhaupt denkbaren Spielsituationen – auch solche von kontrafaktischem Charakter“ in dem „Denkschema“ enthalten sind und für jede dieser Situationen von vornherein eine Reaktion vorbereitet ist. Der daraus entstehende „vollständige Plan“ ergibt – spieltheoretisch definiert – die Strategie. Anhand einiger politisch-kriegsgeschichtlicher Beispiele vor allem aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts werden in einem weiteren Kapitel die Theorieüberlegungen noch einmal plastischer dargestellt und diskutiert. Die Modelle und Beispiele werden – und das könnte für den ersten Blick vielleicht erschrecken – anhand von sehr vereinfachten mathematischen Gleichungen in Verbindung mit entsprechenden gut verständlichen Abbildungen der Beziehungen in Matrixform bzw. der Spielbäume vorgestellt.

Dabei gelte es zum einen zu erkennen, dass bzw. wann die strenge Rationalität der Spieltheorie in der Realität nicht erwartet werden kann, in der nämlich zusätzliche Triebkräfte etwa in Form Kulturkreis-abhängigen oder intuitiv ausgelösten Verhaltens wirken, die von mathematischen Modellen (bisher) nicht erfasst werden können. Und zum anderen seien auch ernstzunehmende Einwände wegen der stark vereinfachenden Modelle mit der generellen Frage nach der Praxisrelevanz der Theorie zu beachten. Ob und in wieweit künftig dafür neueste Ansätze wie die Behavioral Game Theory bzw. die Evolutionäre Spieltheorie Lösungskonzepte anbieten, müsse sich noch zeigen.

Dem stellt Müller im zweiten Schritt das Thema Strategie gegenüber. Er kommt sehr schnell vom allgemeinen Verständnis und dem in den Wirtschaftswissenschaften zu der Entwicklung des Begriffes Strategie in dessen Ursprungsgebiet, der Sicherheitspolitik und dem Militärwesen. Dabei spiegeln sich für den Leser fast unbewusst diese Ansichten von Strategie im bereits entwickelten spieltheoretischen Verständnis von Strategie als „vollständiger Plan“. – Der Überblick, im Wesentlichen über die letzten 250 Jahre, mag zwar allgemein bekannt und in anderen Abhandlungen ebenfalls zu finden sein, in dieser Prägnanz und Schlüssigkeit ist er jedoch vorzüglich zu lesen und wäre einen eigenen Artikel wert. – Von dort kommt Müller dann zur eingehenden Betrachtung von Clausewitz‘ Strategie-Verständnis. Dabei greift er – im Gegensatz zu vielen anderen Autoren zu diesem Thema – sinnvollerweise auch auf die frühen Schriften aus der Zeit zurück, als Clausewitz Scharnhorst‘ Schüler war. Denn dort finden sich bereits Grundgedanken zur Strategie in nucleo, die Clausewitz im opus magnum „Vom Kriege“ später ausgearbeitet hat. Präzise strukturiert und von verständlichen Schaubildern begleitet, entwickelt Müller Clausewitz‘ Ausführungen über Strategie, den Kriegsplan, in dem alle strategischen Überlegungen zusammenfließen, sowie Takt des Urteils, mit dem die strategische Denk-Leistung letztlich nur möglich ist. Auch dieser Teil der Arbeit ist in manch anderer Sekundärliteratur zu finden. Dennoch: Müllers einleuchtende und gut nachvollziehbare Systematisierung des Clausewitzschen Ansatzes wäre ebenfalls einen eigenen Artikel in einer Fachzeitschrift wert. Die benutzten Denk-Strukturen verführen Müller jedoch nicht, Clausewitz‘ Auffassung von Strategie selber zu einem konsistenten Entscheidungsmodell zu machen. Mit Clausewitz weist er immer wieder ausdrücklich darauf hin, „dass er lediglich Analyseinstrumente für eine ‚Betrachtung‘ des Gegenstandes <Krieg> liefert – also nur Werkzeuge für die Schulung des Verstandes und zur Schärfung des strategischen Blickes –, nicht aber ein „Lehrgebäude“ für denselben.“

Auf dieser Grundlage kann Müller nun anhand einiger kriegsgeschichtlicher Beispiele aus Zeiten von Friedrich II. von Preußen sowie von Napoleon, die Clausewitz mit seinen damaligen Mitteln analysiert hatte, mit Hilfe der spieltheoretischen Betrachtungsschemata nachzeichnen und damit belegen, dass und inwieweit die heutigen spieltheoretischen Modelle auf konkrete strategische Überlegungen anwendbar sind. Interessant wird es dabei, wenn Müller Clausewitz‘ Argumentationen zum Verhalten von Friedrich II. bei der Schlacht von Kolin 1757 aufgrund spieltheoretischer Überlegungen als „nicht zweifelsfrei“ beurteilt. Wichtig für weitere Forschungen werden dann auch Müllers Überlegungen zu Clausewitz‘ Ausführungen, „den Krieg und im Kriege den einzelnen Feldzug als eine Kette zu betrachten, die aus lauter Gefechten zusammengesetzt ist, …“. Müller sieht darin richtigerweise die Analogie zur extensiven Spielform (Spielbaum). Allerdings weist er an späterer Stelle nach, dass das spieltheoretische Modell ‚wiederholter Spiele‘ kein geeignetes Instrument ist, um in diesem strategischen Kontext Anwendung finden zu können. (Hingegen kann das von Selten entwickelte Verfahren der ‚Teilspielperfektheit‘ sehr wohl einen Lösungsansatz bieten.)

An dieser Stelle öffnet Müller den Blick für mögliche Weiterentwicklungen von Spieltheorie nach dem Modell der Behavioral Game Theory. Ausgangspunkt dabei ist, dass dieser Ansatz bisher in Laborversuchen vielfach und signifikant zu Abweichungen von der Prognose geführt hat, weil die rationalen Verhaltensweisen von sozialen Präferenzen überlagert werden. Derartig anders gelagerte Motivationsstrukturen – wie sie von Clausewitz im Genie des Feldherrn gezeichnet sind, müssten daher künftig auch – z.B. in Form einer Variable „persönliche Friktion“ in das Spielmodell aufgenommen werden. Müller schlägt dazu vor, „den <Typus> in das Strategiekalkül einzubeziehen. Unabhängig davon lautet sein sehr vorsichtiges Fazit: „Es hat den Anschein, dass Clausewitz auch ohne experimentelle wissenschaftliche Studien bereits eine höchst zutreffende Vorstellung vom menschlichen Denk- und Entscheidungsvermögen besaß.“

Damit kommt Müller in zwei kurzen Kapiteln auf den pädagogischen Gedanken aus dem einleitenden Schillerzitat zurück mit dem Hinweis, dass Clausewitz in der Lehre der künftigen Generalstabsoffiziere an der höchstrangigen militärischen Ausbildungsstätte der Bundeswehr nur einen „bescheidenen Platz“ einnimmt. Die Realität in der militärischen Praxis, sei es in den Führungsvorschriften der Bundeswehr, seien es die Führungs- und Analyseverfahren im Rahmen der NATO, bieten keinen Anhalt für den Einsatz von Spieltheorie. Und das, obwohl sich diese Modelle als brauchbare Instrumente zur ex-post-Analyse z.B. bei der Kuba-Krise gezeigt hatten. So seien auch heute im Rahmen der Auswertungen von Übungen aller Art sowie von realen Operationen mit Hilfe dieser Modelles wertvolle Beiträge zu erwarten. Dazu aber bedürfe es der entsprechenden Schulung des Geistes mit diesen Modellen. Spieltheorie gehört für Müller daher zum geistigen Rüstzeug von Befehlshabern/Kommandeuren und deren Führungsgehilfen. Denn: „Das Instrumentarium der Spieltheorie dient dem Zweck, eine systematische Vorgehensweise mit dem Denken in Handlungssequenzen und in reziproken Wirkungen zu verbinden.“

Clausewitz’ Anspruch an sich und sein Werk für die politisch-militärische Praxis lautete: “Nicht was wir gedacht haben, halten wir für einen Verdienst um die Theorie, sondern die Art, wie wir es gedacht haben.” Dieser Anspruch durchzieht Müllers Arbeit dreifach: In der Art wie er selber die beiden Themen Clausewitz und Spieltheorie bearbeitet, darstellt und miteinander verbindet, im Inhalt von Strategie und Entscheidungsfindung per Spieltheorie, wobei die Spielbäume und deren Entwicklung bereits einen erheblichen Zugewinn für das Verständnis von Entscheidungen und deren Findung abgeben, sowie in der mehr impliziten message: Dieses Buch gehört in die Hände von allen, die in Politik und Militär, aber auch allgemein in der Gesellschaft für große und schwierige komplexe Entscheidungen verantwortlich sind.

Müllers Arbeit ist ein Lehrbuch in Strategie. Es gehört daher ganz besonders auch zur Pflichtlektüre der Teilnehmer an der Generalstabsausbildung, nicht nur im Fachbereich Sicherheitspolitik und Strategie.

Clausewitz‘ Verständnis von Strategie im Spiegel der Spieltheorie von Holger Müller, Miles-Verlag, Berlin 2012