Taiwan – The Security and Military Situation – RK WEST am 09.08.2023

LtCol (ret.) James Huang

Einführung

Die westliche China-Politik wurde in den letzten Jahrzehnten durch intensive wirtschaftliche Zusammenarbeit geprägt – ohne Zweifel zum beiderseitigen Nutzen. Die dabei gehegte Hoffnung, das chinesische Regime nach dem Prinzip „Wandel durch Handel“ hin zu mehr Liberalismus und Demokratie zu verändern, erwies sich allerdings als ebenso falsch wie im Hinblick auf Russland. Stattdessen entstanden gefährliche wirtschaftliche Abhängigkeiten, die zwar grundsätzlich in beide Richtungen wirken, gegenüber autoritären Regimen mit Expansionsgelüsten aber dennoch wenig an Sicherheit bieten.

Zum einen versucht China, seinen Einfluss – vor allem, aber nicht nur – im wirtschaftlichen Bereich global auszuweiten. Zum anderen ist das Expansionsstreben mit militärischen Mitteln seit Jahren im Südchinesischen Meer zu beobachten – unter Missachtung des internationalen Seerechts und sehr zum Missfallen der übrigen Anrainerstaaten. Noch gefährlicher und aktuell besonders virulent richten sich chinesische Machtansprüche allerdings auf Taiwan. Die Volksrepublik China, die Taiwan („Republik China“) als abtrünnige Provinz betrachtet, verfolgt seit Jahrzehnten die erklärte Absicht, die Insel ihrem Machtbereich einzuverleiben. Drohungen, dies ggf. auch mit militärischer Gewalt zu vollziehen, haben in den letzten Jahren dramatisch zugenommen.

Wie die sicherheitspolitische Lage um Taiwan von einem Insider betrachtet wird und welche Möglichkeiten zur Verteidigung der Insel bestehen, wurde durch den Militärschriftsteller und früheren aktiven Offizier der taiwanischen Armee, Lieutenant Colonel (ret.) James Huang, beleuchtet. Vortrag und Aussprache fanden in Englisch statt.

Einstellung der Bevölkerung Taiwans zu einer Wiedervereinigung mit China

Eingangs stellte der Referent die Unterschiede zur Situation Deutschlands vor der Vereinigung heraus. Obwohl etliche Taiwanesen verwandtschaftliche Beziehungen zu Festlandchinesen haben, ist die Neigung zu einer schnellen Wiedervereinigung nur bei einer kleinen Minderheit ausgeprägt. Umfragen zufolge vertreten ca. 30 % der Bevölkerung die Auffassung, man solle den derzeitigen Status Quo beibehalten und über eine Vereinigung später entscheiden. Eine fast gleichgroße Zahl möchte den derzeitigen Status dauerhaft beibehalten. Bei beiden Gruppen scheint die Sorge zu überwiegen, dass Schritte zur Unabhängigkeit unvermeidlich zur militärischen Konfrontation führen würden. Auch diejenigen, die längerfristig die Selbständigkeit Taiwans als Staat anstreben, wollen – wohl aus den gleichen Befürchtungen heraus – zunächst den Status Quo beibehalten. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren stark angestiegen und kommt inzwischen auf ebenfalls ca. 30 %.

Militärische Bedrohung Taiwans

Hinsichtlich der militärischen Situation Taiwans ist festzustellen, dass die gegen Taiwan gerichteten maritimen Übungen der Volksbefreiungsarmee zum einen an Zahl deutlich zugenommen und sich zum anderen die Übungsräume verlagert haben. Während die Flottenmanöver noch Ende der 90er Jahre in Küstennähe zum Festland stattfanden, legen sie sich nun wie ein Einkreisungsring um die Insel. Sie werden von starken Luftstreitkräften unterstützt, wobei nicht selten der taiwanische Luftraum verletzt wird.

Erstaunlicherweise scheinen die zunehmenden militärischen Drohgebärden der Volksrepublik China jedoch nach wie vor von der Mehrheit der Bevölkerung mit einer Mischung aus Gelassenheit und Fatalismus aufgenommen zu werden. Man gehe davon aus, dass die chinesische Führung eine gewaltsame Vereinigung mit Taiwan aufgrund der immanenten wirtschaftlichen Folgen scheue – auch weil sie überzeugt sei, dass die Wiedereingliederung Insel in die Volksrepublik China langfristig ohnehin unweigerlich erfolgen werde. Dies entspreche der chinesischen Denkweise.

Zugleich scheint die Zuversicht, dass die USA Taiwan bei einem Angriff durch die Volksrepublik militärisch unterstützen würden, trotz der Unterstützungszusagen Präsident Bidens nicht besonders ausgeprägt zu sein. Ca. 46% der Bevölkerung haben daran Zweifel, ebenso wie an der Möglichkeit, sich militärisch bei einem Angriff Chinas erfolgreich verteidigen zu können.

Kräfteverhältnis

Von den Fähigkeiten der taiwanischen Armee hinsichtlich Führung, Ausbildungsstand und Motivation zeichnete der Referent ein wenig schmeichelhaftes Bild. Zwar gebe es eine Reihe von Programmen, die personelle Ausstattung der Armee und den Ausbildungsstand der Soldaten zu verbessern, die jedoch noch keinen durchschlagenden Erfolg gebracht hätten. Auch im materiellen Bereich gebe es erhebliche Ausstattungsmängel. Die Ausrüstung der Streitkräfte sei in fast allen Bereichen hoffnungslos veraltet. Demgegenüber verfüge die Volksbefreiungsarmee über eine ungeheure Überlegenheit nicht nur gegenüber Taiwan, sondern gegenüber allen Anrainerstaaten der chinesischen Meere. Ohne signifikante Unterstützung sei Taiwan bei einem chinesischen Angriff nicht zu verteidigen.

Aussprache

Die anschließende ausführliche Aussprache deckte eine breite Thematik ab. Sie beinhaltete Fragen nach der Wirkung der politischen Entwicklung in Hongkong auf die taiwanische Gesellschaft, der zunehmenden Attraktivität einer Unabhängigkeit Taiwans insbesondere in der jüngeren Bevölkerung, den Erwartungen, die mit einer Wiedervereinigung verbunden würden, dem Verhältnis zu den USA, dem Ukrainekrieg als mögliche Blaupause für einen Angriff auf Taiwan, den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik, dem maritimen Kräfteverhältnis zwischen China und den USA und vieles andere mehr.

Abschluss

Der informative, mit Schaubildern unterlegte Vortrag und die ergänzenden Aussagen des Referenten in der Aussprache brachten viele neue Erkenntnisse über Taiwan und den Konflikt mit China, ließen in mancherlei Hinsicht die Teilnehmer jedoch etwas ratlos zurück. Denn die Einschätzung, dass ein Angriff Chinas auf Taiwan von der dortigen Bevölkerung in naher Zukunft für sehr unwahrscheinlich gehalten wird, ist angesichts der stark zunehmenden militärischen Bedrohung und der Rhetorik des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping einigermaßen erstaunlich. Man kann nur hoffen, dass diese Einschätzung zutrifft. Die vorgetragenen Fakten gaben dagegen eher Anlass zur Besorgnis.

Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.