Ein deutscher Mythos

Die Ausrufung des preußischen Königs Wilhelm zum deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles ist im Kollektivgedächtnis der Deutschen, wenn überhaupt, heute nur noch durch das monumentale Bild Anton von Werners präsent. Werner hat das Geschehen in drei Fassungen gemalt, der Schlossfassung, der Zeughausfassung und der Friedrichsruher Fassung, von denen nur letztere erhalten ist. Die beiden anderen wurden im Krieg zerstört. Die Geschichte der drei Bilder kann als symbolisch für die Geschichte des Reichs angesehen werden: Katastrophen, Untergänge und Vernichtung haben seinen Weg begleitet.

Immerhin: Die erhaltene Friedrichsruher Fassung ist von Wilhelm I. als die „offizielle Fassung” der Kaiserproklamation bezeichnet worden. Sie zeigt auf der linken Seite den vom Kronprinzen und dem Großherzog von Baden und einer dicht gedrängten Gruppe von Würdenträgern flankierten Wilhelm sowie rechts Bismarck und Moltke, den politischen Konstrukteur des Reiches und den militärischen Planer der „Reichseinigungskriege”, hinter ihnen Offiziere, die ihre Säbel und Tschakos zum Vivat nach oben gerissen haben. Zivilisten, Bürger und einfaches Volk sind nicht zu sehen. Sie hätten zu der Zeremonie auch keinen Zutritt erhalten. Man hat das militärische Gepränge der Kaiserproklamation später als Symbol für den „militaristischen Charakter” des Reichs bezeichnet.

Geburtsstunde mit Komplikationen

Tatsächlich fand am 18. Januar 1871 in Versailles nur die Kaiserproklamation und nicht etwa die Reichsgründung statt. Die nämlich war bereits am 1. Januar als Verwaltungsakt erfolgt – ohne Zeremoniell und Feierlichkeiten, denn fast alle, die dabei eine Rolle hätten spielen müssen, befanden sich bei den Truppen in Frankreich, wo der Krieg ja noch fortdauerte. Es war indes nicht nur die Abwesenheit der „Celebrities” aus Berlin, die zur Reichsgründung als unspektakulärem Verwaltungsakt geführt hatte, sondern auch eine Reihe politischer Dilemmata standen einer großen Zeremonie entgegen: Wilhelm lehnte den vorgeschlagenen Titel „Deutscher Kaiser” ab, und der von ihm präferierte Titel „Kaiser von Deutschland” war staatsrechtlich problematisch. Die Lösung in Versailles bestand darin, dass der Großherzog von Baden, der ranghöchste der anwesenden Herrscher, ein Hoch auf „Kaiser Wilhelm” ausbrachte. Aber das war noch das geringste Problem der Reichseinigung: Man hat sie hernach gern als deutsche Nationalstaatsgründung bezeichnet, aber formell handelte es sich dabei um einen Fürstenbund, den die regierenden Oberhäupter miteinander geschlossen hatten.

Das Reich war ein materiell schwaches Gebilde, denn die Steuern blieben weiterhin Länderangelegenheit, und auch ein deutsches Militär gab es nicht. Es gab vielmehr ein preußisches, ein bayerisches, ein sächsisches und ein württembergisches Heer, mit denen das Reich dann in den Ersten Weltkrieg zog. Nur die Kriegsmarine war Reichsangelegenheit. Die politischen Klammern dieses kuriosen Konstrukts waren der Kaiser, der Kanzler und der Reichstag. Regiert wurde das Reich durch den Kanzler mit Hilfe von Staatssekretären. Minister und Ministerpräsidenten gab es nur auf Länderebene. Ein solches Gebilde war auf Symbolik und mediale Präsenz angewiesen; die Herrschaft Wilhelms II., des Enkels, wurde dem entsprechend zu einer großen Selbstinszenierung. Aus heutiger Sicht war das modern. Das politische Problem war, dass Viele den Schein für die Wirklichkeit nahmen. Staatsrechtlich ein Scheinriese, bezog das Reich seine Macht aus ökonomischer Potenz und militärischer Kompetenz. Selbstsicher ist es auf dieser Grundlage nie geworden.

Moderner Nationalstaat versus altes Reich

Mindestens zwei konkurrierende Mythen kämpften um die Identitätsmarkierung des Reichs: Auf der einen Seite standen die bürgerlich-liberalen Kreise, von denen die Reichsgründung als nachholende Nationalstaatsbildung der Deutschen beschrieben wurde, und auf der anderen Seite jene, die das neue Reich in die Tradition des alten Reichs stellten und dabei vor allem die sächsischen, salischen und staufischen Kaiser herausstellten, wobei die Idee eines fiktiven Legitimitätstransfers von den Hohenstaufen zu den Hohenzollern eine zentrale Rolle spielte. Die Idee des Nationalstaats kam nicht ohne demokratische Partizipation aus, weswegen hier der Reichstag, immerhin auf der Grundlage eines allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts zusammengesetzt, die zentrale Rolle spielte, wohingegen im Mythos des Legitimitätstransfers das Haus Hohenzollern im Mittelpunkt stand und die Geschichte Preußens vom Großen Kurfürst über Friedrich den Großen bis zur angeheirateten Königin Luise das Charisma bereitstellte, das den Vorrang der Hohenzollern gegenüber den Wittelsbachern, Wettinern, Welfen und allen anderen deutschen Herrscherhäusern begründete. Unter günstigen Umständen konnten beide Mythen sich gegenseitig verstärken, was die meiste Zeit ja auch der Fall war. Aber in schwierigen Lagen standen sie zumeist gegeneinander, wie im Spätherbst 1918, als der Kaiser ging und die Nation blieb.

Im Rückblick kann man das als das Wunder des Hohenzollernreichs beschreiben, das ja nicht einmal ein halbes Jahrhundert Bestand gehabt hatte: Es zerfiel nicht in die Teile, aus denen es in der staatsrechtlichen Konstruktion eines Fürstenbundes zusammengesetzt worden war, und auch die Rivalitäten zwischen Süd- und Norddeutschen oder Rheinländern und Altpreußen, die vor der Reichsgründung immer wieder eine Rolle gespielt hatten, konnten nicht die Zentrifugalkräfte entfalten, die das Nationalprojekt auch hätten beenden können. Der Zerfall Jugoslawiens zu Beginn der 1990er-Jahre hat gezeigt, wie prekär Nationalstaatsbildungen auf bundesstaatlicher Grundlage sind.

Das Erstaunliche an der bismarckschen Reichsgründung ist, dass dieses Reich 1918 das Verschwinden des Kaisers und die klägliche Rolle des Reichskanzlers, also Wegfall oder Versagen von zwei der drei Klammern, überstanden hat. Die Erfahrung des Weltkriegs, die Erinnerung an den industriellen Aufstieg und die kulturelle Zusammengehörigkeit dürften für den Zusammenhalt eine wichtige Rolle gespielt haben. Dennoch war keineswegs sicher, dass das auf so vielen Kompromissen begründete Reich den Zerfall seiner institutionellen Struktur überleben würde.

Zumindest in dieser Hinsicht erwies sich Bismarcks Konstruktion als Erfolgsprojekt.

Demokratische Vorgeschichte

Es gab freilich auch eine politische Vorgeschichte zur Reichsgründung, die bei der Abdankung des Kaisers viel zum nationalen Zusammenhalt beigetragen hat – und das waren die Revolution von 1848, die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, die dort ausgearbeitete Verfassung und die Entscheidung des Paulskirchenparlaments, den Hohenzollern in Berlin und nicht den Habsburgern in Wien die Kaiserkrone anzutragen – also die Entscheidung für die kleindeutsche Lösung. Das war eine Entscheidung für die Nation und gegen ein Vielvölkerreich mit deutschsprachiger Mehrheit. Friedrich Wilhelm IV. hat die ihm von den Abgeordneten der Paulskirchenversammlung angetragene Kaiserkrone jedoch abgelehnt, weil sie ihn an die demokratische Legitimation gefesselt hätte. Sein Bruder Wilhelm I. hat die Krone, wenn auch zögerlich, angenommen, weil sie ihm, was Bismarck fein eingefädelt hatte, von den deutschen Fürsten und namentlich von deren vornehmstem, vom bayerischen König Ludwig II., angetragen wurde. So glaubte er, der demokratischen Legitimation entkommen zu sein.

Tatsächlich folgte Bismarcks Projekt den von der Paulskirchenversammlung vorgezeichneten Spuren. Eigentlich tauschte er nur die Überbringer der Nachricht aus. Und er vertraute darauf, dass das in den Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich vergossene Blut Wilhelm verpflichtete, die Krone anzunehmen.

Das ist die tiefere Wahrheit des Umstands, dass von den drei Fassungen der Kaiserproklamation, die Anton von Werner gemalt hat, nur die von Friedrichsruh überlebt hat: Auf ihr steht Bismarck im Zentrum, und alle anderen sind um ihn herum gruppiert. Was geschieht, ist letzten Endes sein Werk. Er hat die Fäden des Geschehens in der Hand behalten, und seine Pläne sind aufgegangen – auch und gerade in machtpolitischer Hinsicht. Der in der Literatur gern als „Urpreuße” bezeichnete Bismarck hatte begriffen, dass das durch den glücklichen Ausgang von Kriegen zur europäischen Großmacht aufgestiegene Preußen auf Dauer die ihm zugefallene Rolle nicht würde spielen können, sondern dass es dazu „eingedeutscht” werden musste. In der Vergangenheit ist viel darüber debattiert worden, ob mit der

Reichsgründung von 1871 nun Deutschland „borussifiziert” worden oder aber Preußen in Deutschland aufgegangen sei. Diese Frage ist kaum – oder nur von Fall zu Fall – zu entscheiden, denn das Preußen nach dem Wiener Kongress, zu dem auch das

Rheinland und ehemalige Teile Sachsens gehörten, war ein anderes als das seines Aufstiegs vom Großen Kurfürsten bis Friedrich dem Großen. Es war selbst bereits erheblich „eingedeutscht”. Karl Marx und Friedrich Nietzsche waren preußische Staatsbürger – bis sie es vorzogen, als Staatenlose zu leben. Wie viele andere hatten sie nichts gemein mit dem Ideal bzw. Klischee des preußischen Junkers, der als Offizier seinem König diente.

Preußen ist bereits vor dem 18. Januar 1871 in Deutschland aufgegangen. Und auch davor schon hat es Deutschland seinen Stempel aufgedrückt. In dieser Hinsicht war der 18. Januar 1871 nur der Stichtag in einer langen währenden Entwicklung.

Unser Mitglied Prof. Dr. Herfried Münkler war bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Die Deutschen und ihre Mythen” (2008) und „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918″ (2013, beide Rowohlt).

Der Beitrag wurde zum ersten Mal am 15.01.2021, in der Folge 2 der Publikation Preußische Allgemeine Zeitung Spezial (paz.de) veröffentlicht.