“Der russische Krieg gegen die Ukraine – Ahndung von Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht” – RK WEST am 17.10.2022

Dr. Poretschkin

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in vielerlei Hinsicht unsere bisherigen Vorstellungen gesprengt, obwohl Muster des russischen Verhaltens eigentlich schon vorher unübersehbar waren. Spätestens die Annexion der Krim 2014 und die massive militärische Unterstützung der Separatisten im Donbass hatten gezeigt, dass Russland keine Skrupel hat, sich über bestehende Verträge und über das allgemeine Gewaltverbot in Artikel 2 Ziffer 4 der Charta der Vereinten Nationen hinwegzusetzen. Und auch innerhalb militärischer Konflikte, insbesondere in Tschetschenien und in Syrien, haben russische Streitkräfte seit langem in vielfacher Weise gegen die Regeln des Kriegsvölkerrechts (jus in bello) verstoßen. Es handelte sich dabei nicht – oder zumindest nicht nur – um Einzelfälle. Vielmehr waren vorsätzliche Verstöße gegen grundlegende Regeln des Kriegsvölkerrechts, wie sie in den Haager Abkommen , insbesondere der Haager Landkriegsordnung, sowie in den Genfer Abkommen völkerrechtlich vereinbart sind, integraler Bestandteil der russischen Kriegsführung. Sie sind es auch heute in der Ukraine, wie u.a. die systematische Zerstörung insbesondere der zivilen Versorgungsinfrastruktur belegt. Darüber hinaus gab es jedoch eine erschreckende Zahl von Berichten über grauenhafte Kriegsverbrechen Einzelner.
Da sich der RK WEST lange nicht mit Fragen des Kriegsvölkerrechts befasst hatte, erschien es zur Verbesserung der Urteilsfähigkeit im aktuellen Konflikt zweckmäßig, die bestehenden Regeln und die Möglichkeit der Ahndung von Verstößen zu erläutern oder wieder in Erinnerung zu rufen. Dies hatte freundlicherweise unser Mitglied Direktor a.D. Dr. Alexander Poretschkin, ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet des Wehrrechts, übernommen.

Einführend erläuterte der Referent die Begrifflichkeiten. Obwohl er selbst auch gern vom Kriegsvölkerrecht spreche, gehörten dessen Regelungen jedoch eigentlich zum International Humanitarian Law. Tatsächlich gebe es für den umgangssprachlichen Begriff „Krieg“ keine allgemein akzeptierte Definition. Während in Afghanistan der rechtliche Status der Bekämpfung der Taliban politisch lange unklar war, ist die Situation in der Ukraine eindeutig. Es seien unzweifelhaft die Regeln des „Kriegsrechts“ anzuwenden, aber natürlich auch einzuhalten. Außerhalb der eigentlichen Kriegshandlungen gelte ohnehin in jedem Fall weiter das normale Friedensrecht.

Welche Kriegshandlungen erlaubt und welche verboten sind, ist relativ klar geregelt. Die Schwierigkeit bei der Be- und insbesondere der Verurteilung von Kriegsverbrechen liegen im Regelfall in der Frage, was tatsächlich „ohne vernünftige Zweifel“ passiert ist und inwieweit es einem Täter zuzuordnen ist. Für die Frage des Verschuldens ist zudem zu berücksichtigen, ob dem Täter die Umstände bekannt waren, ob es besondere Rechtfertigungsgründe gibt und ob er aus eigenem Antrieb oder auf Befehl gehandelt hat. Und letztlich gilt auch in Prozessen bei Kriegsverbrechen der Grundsatz „Im Zweifel zugunsten des Angeklagten“.

Ein wichtiges rechtliches Beurteilungskriterium auch in kriegerischen Auseinandersetzungen ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Es ist allerdings anders konditioniert als im Frieden. Dort besagt das Prinzip, dass ein Eingriff erforderlich, geeignet und verhältnismäßig im engeren Sinne (d.h. nicht übermäßig belastend, nicht unzumutbar) sein muss. Alles, was diesen Kriterien nicht genügt, ist rechtswidrig. Im Krieg wird in Art. 57 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen in Zusammenhang mit Kollateralschäden gefordert, von einem Angriff Abstand zu nehmen, „bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.“ Diese Einschränkung ist naturgemäß eine Bewertungsfrage, die sich nicht in jedem Fall eindeutig beantworten lässt. Das Grundprinzip der Verhältnismäßigkeit ist dennoch vor jeder Angriffshandlung in die Beurteilung einzubeziehen.

Anschließend zeigte der Referent anhand von konkreten Beispielen aus dem Krieg in der Ukraine einige Verstöße gegen das Kriegsführungsrecht auf. Was die Ahndung von Kriegsverbrechen angeht, wies Dr. Poretschkin darauf hin, dass das Prinzip von Befehl und Gehorsam die Verantwortung für das rechtswidrige Handeln oftmals auf die Vorgesetzten verlagere. Ausgenommen seien lediglich Fälle, in denen die Strafbarkeit des Handelns für den Befehlsempfänger offenkundig erkennbar („manifestly unlawful“) gewesen sei.

Abgeurteilt werden können Kriegsverbrechen vor unterschiedlichen Gerichten. Das sind zum einen die nationalen Gerichte des Täters oder des angegriffenen Landes, vor allem jedoch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH), der just zu diesem Zweck geschaffen wurde. Das Problem dabei ist allerdings, dass er grundsätzlich nur gegenüber Angehörigen von Vertragsstaaten tätig werden kann oder wenn der Fall durch den UN-Sicherheitsrat an den IStGH verwiesen wurde. Es sind zwar mit 163 Staaten immerhin 60% aller Staaten beigetreten, die allerdings nur 30% der Weltbevölkerung vertreten. Weder Russland noch die Ukraine noch die USA haben den Vertrag gezeichnet. Ein Staat, der nicht Mitglied ist, kann jedoch die Zuständigkeit des IStGH formell bejahen, sofern die Tat auf seinem Territorium verübt wurde oder die Person Staatsangehöriger dieses Staates ist. Dies ist im Fall der Ukraine geschehen, so dass der IStGH an den Ermittlungen dort beteiligt ist. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, auf Beschluss der UNO wie seinerzeit für Jugoslawien ein Sondertribunal einzurichten.

Die beschriebene Lücke in der Strafverfolgung wird auch- zumindest zum Teil – durch das relativ junge Weltgerichtsprinzip kompensiert, nach dem jeder Staat Kriegsverbrechen anklagen und aburteilen kann – auch solche, die nicht von seinen eigenen Bürgern oder auf seinem eigenen Territorium begangen wurden. In Deutschland ist dazu das Völkerstrafgesetzbuch erschaffen worden, in dem das internationale Recht in deutsches Recht überführt wurde. So regelt § 13 dieses Gesetzbuch z.B. das Verbrechen der Aggression. Danach wird mit bis zu lebenslanger Haft bestraft, „wer einen Angriffskrieg führt oder eine sonstige Angriffshandlung begeht, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt“. Auch unter Berücksichtigung einiger einschränkender Kriterien in den folgenden Absätzen wird dieses Verbrechen durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zweifelsfrei erfüllt. Gegen Putin kann dieser Paragraph z.Z. dennoch nicht angewendet werden, weil amtierende Staatsoberhäupter von der Strafverfolgung generell ausgeschlossen sind.

In der anschließenden ausführlichen Aussprache wurde ein breites Spektrum an Themen angeschnitten. Dazu gehörten u.a. die beschränkten praktischen Möglichkeiten, Täter namhaft und dingfest zu machen und ihnen die begangenen Taten zweifelsfrei zu beweisen, der Hinweis darauf, dass in der Vergangenheit auch von den USA Kriegsverbrechen nicht angemessen verfolgt wurden, nach der Verantwortung des Einzelnen auch für befohlenes Handeln und die Frage nach dem rechtlichen Status der Bekämpfung der Taliban seinerzeit in Afghanistan („Krieg oder nicht?“).

Die Erkenntnis aus der Vortragsveranstaltung war, dass zwar recht klare Regeln im internationalen Recht für die Kriegsführung existieren, die Ermittlung, Verfolgung und Sanktionierung von Kriegsverbrechen aber oftmals deutlich komplizierter ist zunächst gedacht.

Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.