„Brennpunkt Schwarzes Meer – eine maritime Herausforderung für geopolitisches Handeln“ – RK WEST am 14.12.2023

GL a.D. Dr. Olshausen u. FAdm a.D. Toyka

Das Schwarze Meer stand in Deutschland – anders als z.B. in England und Frankreich – über viele Jahrzehnte selten im Blickpunkt der Betrachtung. Erst seit der Annexion der Krim durch Russland und insbesondere mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist es auch bei uns stärker in den Fokus gerückt. In diesem Konflikt wurde nicht nur die militärische Bedeutung des Schwarzen Meeres offenkundig, sondern auch die immense wirtschaftliche – nicht zuletzt als Seeweg für die Versorgung der Welt mit ukrainischem Getreide. Die geopolitischen Aspekte dieses Binnenmeeres wurden von Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen aufbereitet , die maritimen durch Flottillenadmiral a.D. Viktor Toyka.

Geographie und Bedeutung in geschichtlicher Zeit

Generalleutnant a.D. Dr. Olshausen stellte zunächst die Geographie des Schwarzen Meeres dar. Mit einer Ost-West-Ausdehnung an der breitesten Stelle von ca. 980 km und einer Nord-Süd-Ausdehnung von 530 km bedeckt es eine Fläche von ca. 450.000 km² und ist damit deutlich größer als die Bundesrepublik Deutschland. Anrainerstaaten sind Russland, einschl. der illegal besetzten Küsten, Georgien (PfP NATO, EU-Assoziation), Türkei (NATO), Bulgarien und Rumänien (beide NATO- und EU-Mitglieder) sowie die Ukraine (EU-Kandidat und Aussicht auf NATO). In einer historischen Betrachtung führte der Referent aus, welche Rolle das Schwarze Meer in der Antike bei der Kolonisation durch die Griechen, anschließend im Reich der Perser/Achämeniden, dann im römischen Reich und in jüngerer Zeit schließlich unter den Osmanen gespielt hat.

Wirtschaftliche Bedeutung
Die heutige wirtschaftliche Bedeutung – neben der Funktion als Seeweg – umfasst auch umfangreiche Erdöl- und Erdgas-Vorkommen, die bisher nur teilweise exploriert und genutzt werden. Inwieweit sich die aufgrund der großen Meerestiefe sehr aufwändige Erschließung dieser Felder angesichts der abnehmenden Bedeutung fossiler Rohstoffe lohnt, muss sich zeigen. Die Wirtschaftszonen sind zwischen den Anrainerstaaten aufgeteilt, wobei einige Abgrenzungen strittig sind. Russland versucht offensichtlich, durch seine Annexionen auch die Aufteilung der Nutzungszonen zu seinen Gunsten zu verändern.

Seekriegführung im Krieg Russlands gegen die Ukraine

Flottillenadmiral a.D. Toyka widmete sich den maritimen Aspekten des Themas und beleuchtete zunächst die Kriegführung Russlands im Schwarzen Meer. Bei dieser Auseinandersetzung handele es sich nicht um einen Seekrieg im klassischen Sinn. Die Ukraine verfüge über kein ausreichendes Kräftedispositiv zur Seekriegführung. Sie habe nach der Aufteilung der sowjetischen Flotte überwiegend kleinere Einheiten erhalten und das einzige größere Schiff, eine Fregatte, nach Beginn des russischen Angriffskriegs im März 2022 selbst versenkt, damit es nicht in russische Hände fallen konnte. Russland ging davon aus, mit seiner umfangreichen und modernen Schwarzmeerflotte über eine ungefährdete Seeherrschaft auf hoher See und in den Küstengewässern zu verfügen.

Tatsächlich hat sich jedoch im Kriegsverlauf die Realität anders entwickelt als erwartet. Bereits Ende April 2022 gelang es ukrainischen Küstenschutzkräften mit Drohnen- und Flugkörperangriffen den Flugkörperkreuzer MOSKWA, das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte, so schwer zu beschädigen, dass es anschließend sank. Dies war für die Flotte psychologisch und militärisch eine verheerende Niederlage. In der Folge gab es mehrfach ukrainische Angriffe gegen die Schwarzmeerflotte, die weit über den Charakter von Nadelstichen hinausgingen. So wurden bei einem weiteren Angriff im Dezember 2022 in der wichtigsten Reparaturwerkstatt der Flotte das Landungsschiff MINSK und das U-Boot ROSTOV-NA-DONU schwer beschädigt. Die Flotte sah sich gezwungen, Hochwerteinheiten aus Sewastopol in weiter entfernte Häfen zu verlegen, um sie der Bedrohung durch ukrainische Flugkörper zu entziehen. Die Zerstörung der brandneuen und noch nicht im Dienst befindlichen Korvette ASKOLD in der Werft Kertsch machte deutlich, dass die Wirkungsmöglichkeiten der Ukraine deutlich über Sewastopol hinausgehen. Die Flugkörperträger werden daher derzeit nicht mehr als eigentliche Seekriegsmittel genutzt, sondern lediglich als Abschussrampen gegen Landziele in der Ukraine.

Ein Höhepunkt der ukrainischen Aktivitäten war der verheerende Schlag gegen das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte in Sewastopol im Dezember 2023 mit hohen Verlusten unter dem Führungspersonal, einschließlich des Befehlshabers. Der Flottenstützpunkt Sewastopol ist damit nicht mehr ein wichtiges Asset Russlands im Krieg gegen die Ukraine, sondern eher zur Belastung geworden. Es soll Überlegungen geben, einen neuen Flottenstützpunkt in Abchasien zu errichten, also auf annektiertem georgischem Staatsgebiet mehr als 600 km von der Krim entfernt.

Ein Zwischenfall mit der Schwarzmeerflotte im August 2022 hätte nach Auffassung des Referenten eine deutlich schärfere Reaktion verlangt, um dem Seerecht Geltung zu verschaffen. Ein Handelsschiff eines nicht am Konflikt beteiligten Drittstaates wurde völkerrechtswidrig in internationalen Gewässern einer Kontrolle unterzogen. Statt eines scharfen internationalen Protests, gab es lediglich nach Tagen eine schwache Reaktion der Türkei. Ein solches Vorgehen hat sich allerdings nicht widerholt. Der Verdacht auf eine ebenfalls völkerrechtswidrige Verminung auf hoher See und in rumänischen Küstengewässern konnte bisher nicht verifiziert werden. Obwohl das Getreideabkommen durch Russland gekündigt wurde, haben über 200 Handelsschiffe bis Anfang Dezember 2023 über 7 Millionen Tonnen Ladung durch das Schwarze Meer transportiert.

Historische Entwicklung der Kräfteverhältnisse

Flottillenadmiral Toyka ging dann auf die historische Entwicklung der Kräfteverhältnisse im Schwarzen Meer ein. Seit ca. 240 Jahren ringen das zaristische Russland, gefolgt von der Sowjetunion und nunmehr die Russische Föderation mit der Türkei um die Vorherrschaft in diesem Seegebiet und um die Meerengen Bosporus/Dardanellen. Dabei hatte die 1783 von Fürst Potemkin gegründete Schwarzmeerflotte mit ihrem Hauptquartier in Sewastopol immer die Oberhand. Selbst im Krimkrieg (1853 – 1856), den Russland verlor, gelang der Schwarzmeerflotte die Vernichtung des gesamten osmanischen Flottenverbandes.

Nach Ende des 1. Weltkriegs hatten die Entwicklungen in Russland mit der Revolution und dem Eingreifen des Westens zwar zunächst zur Auflösung nahezu der gesamten Schwarzmeerflotte geführt. Dies hatte aber militärpolitisch kaum Auswirkungen, da die Türkei nach dem Krieg ebenso geschwächt war. Die Sowjetunion stellte in den 30er Jahren mit einem umfangreichen Rüstungsprogramm, das auch Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer einschloss, die klare Dominanz der Schwarzmeerflotte in diesem Seeraum wieder her. Trotz eines ambitionierten Flottenbauprogramms unter Atatürk konnte die Türkei dieser Dominanz nur wenig entgegensetzen, zumal die türkische Marine auch in anderen Seeräumen gebunden war. Darüber hinaus wurden zwei im Vereinigten Königreich in Auftrag gegebene Schiffe auf Anweisung Churchills als damaligen Marineminister ohne Kompensation beschlagnahmt und die Besatzungen interniert – ein Vorfall, der maßgeblich zum späteren Kriegseintritt der Türkei auf Seiten der Achsenmächte beigetragen hat.

Die Meerengen Bosporus und die Dardanellen wurden mit dem Friedensvertrag von Lausanne 1928 zunächst internationalisiert; kamen aber 1936 mit der Konvention von Montreux wieder in die Souveränität der Türkei. Die Passageregelungen mit ihren Auflagen für Kriegsschiffe aus Nicht-Anrainerstaaten machten das Schwarze Meer quasi zu einem von der Schwarzmeerflotte kontrollierten Binnenmeer.

Die Regelungen der Konvention, die bis heute in Kraft ist, wurden selbst im 2. Weltkrieg und im Kalten Krieg penibel angewendet, so dass im Schwarzen Meer der mächtigen Schwarzmeerflotte lediglich die schwache türkische Marine gegenüberstand. Umgekehrt konnte die Sowjetunion die Meerengen mit ihren Marineeinheiten ungehindert in Richtung Mittelmeer passieren, wo sie eine beträchtliche Präsenz entfaltete, der die NATO zunächst ab 1969 eine On Call-, ab 1992 eine Standing Naval Force Mediterranean entgegensetzte.

Die Auswirkung der Konvention von Montreux im Kalten Krieg machte der Referent anhand der Ostsee deutlich, wo eine vergleichbare Regelung zu einer überwältigenden Dominanz der Flotten des Warschauer Paktes geführt hätte. Durch den NATO-Beitritt der Anrainerstaaten Rumänien und Bulgarien hat sich auch die geostrategische Situation des Schwarzen Meeres grundlegend geändert.

Zeitgleich wurde die Position der Schwarzmeerflotte durch mehrere Faktoren geschwächt. Der Klarstand der Flotte verfiel zunehmend, die russische maritime Rüstung fokussierte sich auf strategische Vorhaben, die wichtige Werft Mykolajiw war mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 nicht mehr in russischer Hand und Teile der Flotte gingen ebenfalls an die Ukraine. Dieser Trend des Niedergangs der Flotte hat sich allerdings seit ca. einem Jahrzehnt umgekehrt. Im Zuge eines Modernisierungsprogramms sind neue Fregatten, Korvetten und U-Boote zugelaufen – bewaffnet vor allem mit Flugkörpern großer Reichweite.

Bedeutung des Schwarzen Meeres für die NATO

Die NATO hat nach Einschätzung des Referenten das Schwarze Meer bis heute vernachlässigt. Trotz des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine waren an der jüngsten maritimen NATO-Übung „Sea Breeze 2023“ im Schwarzen Meer auf See nur die Anrainerstaaten Türkei, Rumänien und Bulgarien und auch sie nur in einem sehr begrenzten Umfang vertreten. Dabei hätten die Regeln der Konvention von Montreux einer Teilnahme auch anderer Nationen nicht entgegengestanden. Dagegen seien an der Übung „Northern Coast 2023“ unter deutscher Führung in der Ostsee 30 Einheiten aus vielen NATO-Staaten beteiligt gewesen.

Admiral Toyka empfahl, die Bedeutung des Schwarzen Meeres für die NATO und die EU aus militärstrategischen, aber auch aus ökonomischen Gründen neu zu bewerten. Dazu sei zum einen für die Meerengen Bosporus/Dardanellen die UN-Convention of the Law of the Sea III (UNCLOS III) von 1982 anzuwenden. Die Konvention sei zwar nicht von allen, aber von 150 Staaten ratifiziert und geltendes Recht für alle. In UNCLOS III seien die Passagerechte für Handels- und Kriegsschiffe sowie die Verhaltensregeln beim Durchfahren ebenso klar definiert wie die Rechte der Hoheitsstaaten bei Verstößen gegen diese Regeln. Die Konvention von Montreux sei durch dieses neue Abkommen überholt und außer Kraft zu setzen.

Zum anderen solle sich die angesichts des Ukraine-Kriegs gestiegene Bedeutung des Schwarzen Meeres auch in einer erhöhten Nato-Flottenpräsenz in diesem Seegebiet widerspiegeln. Analog zum Mittelmeer könne das zunächst durch eine On Call Force und später möglicherweise durch eine Standing Naval Force Black Sea geschehen.
Analog zur Ostsee könne für das Schwarze Meer darüber hinaus auch ein Black Sea Maritime Component Command, möglicherweise unter türkischer Führung, aufgebaut werden, um deutlich zu machen, dass die NATO angesichts der jüngsten Erfahrungen mit russischem Machtstreben diese Region nicht sich selbst bzw. russischer Vormacht überlassen wolle.

Geopolitische Einordnung

Dr. Olshausen band nach diesen Ausführungen zu den maritimen Aspekten das Thema aus geopolitischer Sicht ab, indem er noch einmal die multiplen auf diesen Raum zielenden Interessen deutlich machte, die deutlich über die der Anrainerstaaten hinausgehen und die USA und China einschließen. Der Referent zeigte – schon mit Blick auf die Geographie – das geopolitische Gewicht von NATO und EU auf, das sich jedoch in der Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression nicht annähernd widerspiegele. Letztlich lasse man durch die derzeitige Zögerlichkeit bei der militärischen Unterstützung die Ukraine hängen.

Aussprache

Die anschließende ausführliche Aussprache deckte eine breite Thematik ab. Sie beinhaltete u.a. Fragen und kritische Anmerkungen zur Rolle und den Interessen Georgiens, Anmerkungen zur Rolle der Türkei im gegenwärtigen Konflikt und in der NATO insgesamt, zur Wirksamkeit von UNCLOS III angesichts der Nicht-Ratifizierung durch die USA, China und Russland, zu einer möglichen Rolle der Bundesmarine beim Schutz deutscher Handelsschiffe auf Routen im Schwarzen Meer, zur Entwicklung und Nutzung von Drohnen durch die Bundesmarine bzw. zu den Möglichkeiten, sich gegen solche Waffensysteme zu schützen, zur möglichen Rolle der Royal Navy bei den Angriffen auf weit entfernte russische Marineeinheiten und Stützpunkte sowie zur Frage einer Realisierbarkeit der angesprochenen stärkeren NATO-Präsenz im Schwarzen Meer.

Jahresausklang

Im Anschluss ließ der Leiter des RK WEST die Aktivitäten des RK im Jahr 2023 Jahr kurz Revue passieren und gedachte dabei auch der im Jahresverlauf verstorbenen Mitglieder Oberst a.D. Ernst-August Frede und Generalmajor a.D. Jörg Bahnemann, die 54 bzw. 55 Jahre der Clausewitz-Gesellschaft angehört hatten.
Es war zugleich die letzte Veranstaltung unter Leitung des Verfassers, der sich nach 12 ½-jähriger Tätigkeit aus dieser Funktion abmeldete.

Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.