ES&T: Bericht zum Berliner Colloquium 2016

Die EU als außen- und sicherheitspolitischer Akteur: Realität oder Vision?
Eine kritische Bestandsaufnahme

Die sicherheitspolitische Lage erfüllt weltweit mit Sorge; Risiken und potenzielle Bedrohungen sind hoch. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie die Europäische Union ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ausrichten muss, um auch in Zukunft eine angemessene Rolle als Akteur im globalen sicherheitspolitischen Umfeld zu behalten. Beim Berliner Colloquium 2016 vom 16. bis 18. März wurden die damit verbundenen Aspekte kritisch hinterfragt und die Auswirkungen auf die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Bundeswehr beleuchtet. Zu der gemeinsamen Veranstaltung der Clausewitz‐Gesellschaft e.V. und der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) begrüßten deren Präsidenten, Generalleutnant a. D. Kurt Herrmann und Dr. Karl-Heinz Kamp, über 250 Mitglieder und Gäste.

Fehlende Einigkeit, schwindende Solidarität

Eher kritische Einschätzungen der Handlungsfähigkeit der EU prägten die Vorträge und Diskussionen des Colloquiums. Einerseits sei die EU sehr erfolgreich in ihrem Krisenmanagement, z.B. im Russland-Ukrainekonflikt, andererseits aber sei festzustellen, dass das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der EU vielerorts abnehme: Bei einigen Mitgliedsländern sei eine „zunehmende Abschottung“ zu beobachten, und ihre Bereitschaft sinke, nationale Souveränitätsrechte aufzugeben. Zentrifugalkräfte wüchsen, Solidarität schwinde.

Die Krise sitze tief, selbst Fundamente der Union seien in Frage gestellt, meinte Jari Vilén, Botschafter der EU beim Europarat. Bei einer Tour d’Horizon der globalen Krisenherde und Herausforderungen ging er ausführlicher auf das Verhältnis der EU zu Russland ein. Dieses Land sei ein „big player“ geblieben, dessen Interessen man durchaus verstehen müsse. Das verlange auch, eigenes (westliches) Denken zu überprüfen. Es sei besser, mit einem (berechenbaren) Putin zu leben als mit einem nicht bekannten Nachfolger. Die EU müsse jedoch im Umgang mit Russland Geschlossenheit zeigen, nicht zuletzt in der Frage der gemeinsamen Sanktionen, zugleich sollte sie aber auch über eine mögliche Lockerung nachdenken.

Die globalen Herausforderungen, u.a. durch Migration, verlangten von der EU vor allem eines: Einigkeit. Dies sei die Voraussetzung dafür, als Akteur in der Weltpolitik in Zukunft bestehen könne. Gelinge es, diese Einigkeit und die Gemeinsamkeit des Handelns wieder herzustellen, gebe es – trotz vieler noch kritischer Situationen – Anlass zu Optimismus. Für eine solche positive Entwicklung sei eine führende Rolle Deutschlands  unabdingbar.

Sinngemäß sah Dr. Karl-Heinz Kamp die geopolitische Lage. Das Jahr 2014 habe einen Wendepunkt in der internationalen Sicherheitspolitik markiert, insbesondere durch die Entwicklungen in Russland und im Nahen/Mittleren Osten und Nordafrika. „Russland geriert sich zunehmend als anti-westliche Macht“, und doch werde es bei den globalen Problemlösungen als Partner gebraucht, insbesondere im Nahen/Mittleren Osten. Dort vollziehe sich derzeit eine „dauerhafte Erosion von Staatlichkeit“; gleichzeitig sei eine „intervention fatigue“ zu beobachten: Die Welt schaue dem Geschehen eher ohnmächtig zu. In dieser unsicheren Weltlage hält Dr. Kamp ein solidarisches Europa für entscheidend, wolle man mit den Folgen der derzeitigen Krisen fertig werden, u.a. der Migration. Doch dürfe man an das Krisenmanagement der Union auch keine zu hohen Erwartungen stellen. Insbesondere auf militärischem Gebiet werde die Sicherheit Europas eher durch die Nato gewährleisten können und müssen – und dies auch nur gemeinsam mit den USA.

Die Alternative: Integration oder Handlungsunfähigkeit

Professor Dr. Johannes Varwick, Universität Wittenberg, stellte in seinem Impulsvortrag „Stand und Perspektiven internationaler Beziehungen“ ein konzeptionelles Modell dafür vor, wie Sicherheit in Zukunft organisiert werden könnte. Dabei ging er davon aus, dass die „Post-Cold-War-Ära“ vorbei sei. Die Ursachen dafür sieht er in der Erosion nationalstaatlicher Souveränität, zunehmendem Problemdruck in zahlreichen Politikfeldern weltweit, aber auch in Tendenzen zu einer Rückbesinnung von Staaten auf ihre besonderen nationalen Interessen. Die von den USA als Ordnungsmacht geprägte unipolare Ordnung sei zerfallen; die Welt werde „ungeordneter und chaotischer, und globales Regieren wird in Zukunft von einem komplizierten Ausbalancieren unterschiedlichster ökonomischer und sicherheitspolitischer Interessen sowie divergierender normativer Vorstellungen geprägt sein“. Die Interdependenzen in einer globalisierten Welt, in der es keine „Komfortzonen“ mehr gebe und die „Probleme der anderen“ ignoriert werden könnten, zeigten sich immer deutlicher.
Die bisherigen Versuche, die globalen Herausforderungen durch „Global Governance“  zu bewältigen, seien von unrealistischen Voraussetzungen ausgegangen; multilaterales Handeln sei dabei in eine Krise geraten, stellte Dr. Varwick fest. Dennoch ließen sich die (zukünftigen) Herausforderungen (vielfach) nur international lösen. Innerhalb welcher Strukturen dies erfolgen werde, sei aber heute kaum absehbar. Fest stehe, dass sich die bisherigen Formate multilateralen Handelns konzeptionell wandeln müssten. Ein solcher neuer Multilateralismus werde „durch eine lockerere Form von Ad-hoc-Koalitionen – und mithin einem schwachen Institutionalisierungsgrad zugunsten von Informalität und Flexibilität und einer größeren Betonung der Output-Legitimität geprägt sein“. Solche neuen, informeller Kooperations- und Abstimmungsmechanismen bezeichne man als „selektiven Multilateralismus“ oder auch „Club Governance“ (z.B. G20, G7 und andere Formate).

Diese „G-isierung“ internationaler Politik sowie der sich wandelnde Multilateralismus stellten die deutsche Sicherheitspolitik vor ganz eigene Anforderungen. Deutschland würde von einer abnehmenden Bindewirkung dieser Organisationen, so die Einschätzung des Vortragenden, fundamental betroffen werden. Daher liege es im vitalen deutschen Interesse, sie funktionsfähig zu halten bzw. funktionsfähiger zu machen und ihre „Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten durch die europäische Ebene zu verstärken“. Die Perspektiven der etablierten Partnerschaften und Bündnisse hängen maßgeblich vom Willen aller Beteiligten zum Engagement ab, lautet deshalb eine der Schlussthesen des Vortrags. Die Alternative sei: stärkere Integration oder Handlungsunfähigkeit.

Europäische Identität verbessern

Ein erstes, vom Präsidenten der Clausewitz-Gesellschaft moderiertes Panel „Die EU als sicherheitspolitischer Akteur – eine Bestandsaufnahme“ bestätigte weitgehend die Schwachstellenanalysen der vorangegangenen Vorträge, aber auch die Erkenntnis, dass die transatlantischen Bindungen erhalten und gestärkt werden sollten. Sinkendes Interesse an sicherheitspolitischen Aktivitäten der EU und unterschiedliche strategische Prioritäten in den Mitgliedsländern hätten dazu geführt, dass die Union in ihrem sicherheitspolitischen „Kerngeschäft“, dem Krisenmanagement, (weit) hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibe. Dies habe, so Jana Puglierin, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, zu einer Mangellage bei den dafür notwendigen Ressourcen geführt. Ihr Rat: „Kerneuropa sollte seine strategische Linie bei der GSVP in Zukunft besser abstimmen.“ Angesichts zunehmender „Renationalisierungstendenzen“ bei einem Teil der EU-Mitgliedsländer müsse man aber auch darüber nachdenken, „EU-Aktivitäten an nationalstaatliches Handeln anzuhängen“.
Oberst i.G. Helmut Frietzsche, BMVg, stimmte diesen Einschätzungen weitgehend zu. Er hoffe aber, dass der negative Trend bei den Fähigkeiten der EU gebrochen werde; er sehe eine Trendwende bei der Bereitschaft, Ressourcen bereitzustellen, aber insgesamt sei der „Output“ (noch) zu gering. Deutschland sei stark daran interessiert, die GSVP voranzubringen. Besonders müsse die Kooperation mit der NATO und auch über die EU-Grenzen hinaus weiterentwickelt werden, vor allem bei Rüstungsprojekten. Die von Verteidigungsministerin von der Leyen ins Spiel gebrachte „Europäische Verteidigungsunion“ ist nach Einschätzung von Frietsche derzeit sicher schwer zu realisieren, sollte aber langfristig auf der europäischen Agenda bleiben.

Botschafter Fred Tanner, OSZE , hält, trotz der derzeitigen Probleme mit Russland, die Renaissance der OSZE, vor allem auf dem Gebiet des Krisenmanagements, für wahrscheinlich. Er knüpfte an den deutschen OSZE-Vorsitz 2016 die Erwartung einer Stärkung der Organisation auf dem Gebiet vertrauensbildender Maßnahmen.

Mit dem Thema „Welche sicherheitspolitischen Aufgaben und Lösungsansätzen der EU sind zu erwarten“ beschäftigte sich das zweite Panel, moderiert von Dr. Karl-Heinz Kamp.

Generalleutnant Hans-Werner Wiermann, Deutscher Militärischer Vertreter im Militärausschuss der NATO und der EU, sieht die Stärke der EU im Potential ihrer Fähigkeit zum „Comprehensive Approach“ . Dieses müsse besser genutzt werden. Dazu müssten aber alle europäischen Institutionen stärker als bisher an einem Strang ziehen. „Was wir brauchen, ist ein strategisches Hauptquartier in Brüssel ganz neuer Prägung. Eine Institution, die in der Lage ist, eine Krise von vornherein umfassend zu analysieren und alle Instrumente zu betrachten, über die die EU verfügt. Das ist die neue Qualität, die wir brauchen“, so Wiermann. Die Europäer seien gezwungen, ihre Verteidigung effizienter zu organisieren, um ihre Interessen wirksamer durchsetzen zu können. Dies sei eine lösbare Aufgabe; der Handlungsdruck in der gegenwärtigen Situation mache die Notwendigkeit zu schnellem Handeln deutlich. Insofern sei er verhalten optimistisch.

Im wirksamen Schutz der Außengrenzen sieht Ministerialdirektor Dr. Jörg Bentmann, Bundesministerium des Innern, derzeit ein brennendes Problem. Die EU als Raum der Freiheit und der Sicherheit brauche sichere Außengrenzen. Dabei ging es nicht um Abschottung – das könne und wolle man nicht – sondern um Sicherung. Dafür müssten die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden.

Auch in der Abwehr der lange unterschätzten Bedrohung aus dem Cyberraum müssten die Europäer intensiver zusammenarbeiten als bisher. Angriffe im Cyberraum könne kein Nationalstaat alleine abwehren. Dies bedeute nicht, Kompetenzen in die EU zu verlagern, sondern vielmehr verstärkt zu kooperieren und die notwendigen Ressourcen und Kapazitäten zur Verfügung zur stellen. Ohne die nationalen Herausforderungen zu vernachlässigen, müsse die europäische Perspektive stärker in den Fokus rücken. „Wir müssen bereit sein, europäische Perspektiven einzunehmen und nicht versuchen, immer nur deutsche Lösungen nach Europa zu transportieren. Und dann sind auch Lösungschancen da“, ist Bentmann überzeugt.

EU muss zunächst ihren eigenen Zusammenhalt sichern

Dr. Nicolai von Ondarza, Stiftung Wissenschaft und Politik, forderte, die EU müsse zunächst ihren eigenen Zusammenhalt sichern und ihre existenzielle Krise lösen. Erst dann könne sie sich anderen Aufgaben zuwenden. So wäre aus sicherheitspolitischer Perspektive ein Europa ohne Großbritannien ebenso ein herber Verlust wie auch ein Griechenland, das sich hin zu einem „failed State“ entwickele.

Ondarza sieht derzeit Europa schon bei der Lösung der Probleme in seiner Nachbarschaft -Syrien, Irak, Libyen, Tunesien, Ukraine und Russland – überfordert. Erst müssten diese naheliegenden Herausforderungen gemeistert werden, bevor über eine „europäische Globalstrategie“ nachgedacht werde könne. Die EU sollte in die Lage versetzt werden, auch ohne die USA in der eigenen Nachbarschaft autonom militärisch handeln können. Nur wenn sie über die notwendigen Strukturen verfüge, sei sie in der Lage, militärische Fähigkeiten und zivile Mittel wirksam zu kombinieren. Deshalb brauche man auch weiter die GSVP. „Die EU ist unheimlich gut darin, Krisen in die nahe Zukunft zu verlagern, aber schlecht darin, sie langfristig zu lösen“. Wie die Flüchtlingskrise zeige, gäbe es eine ernste Bedrohung für den Zusammenhalt der EU, nämlich durch diejenigen Mitgliedsstaaten, die sich nicht an gemeinsame Beschlüsse hielten.

Das dritte Panel hatte die „Realisierung einer globalen Strategie für Außen- und Sicherheitspolitik der EU“ zum Thema. Diese sei eine „Herkulesaufgabe für die nächsten Jahre“, wie der Moderator Werner Sonne einleitend feststellte.

Die Panelisten, Prof. Dr. Michael Staack, Universität der Bundeswehr Hamburg, Dr. Andreas Nick, MdB, und Alexander Reinhardt, Head of Public Affairs, Airbus Group, waren sich darin einig, dass Europa derzeit kein strategiefähiger Akteur sei. In der Ukraine-Krise habe die EU noch ihre Handlungsfähigkeit bewiesen (Sanktionspolitik, Verhandlungsangebote), dagegen sei in der Flüchtlingskrise kein strategischer Ansatz zu erkennen gewesen. Nick zeigte einen Lösungsweg auf: Außengrenzen sichern und illegale Immigration verhindern, gleichzeitig aber legale Einwanderung in die EU ermöglichen. Es habe bisher an gemeinsamen Lageanalysen und koordiniertem Handeln gefehlt. Statt zusammen zu stehen habe sich Europa eher auseinanderentwickelt. Das richtige Augenmaß zwischen einer idealen Welt und Pragmatismus habe gefehlt.
Die EU mit 28 Mitgliedsstaaten sei möglicherweise „überdehnt“, so Staack. Einige Mitgliedsstaaten hätten das Gemeinschaftsinteresse nicht im Blick, sondern ihre sehr begrenzten nationalen Interessen. Insbesondere habe eine gemeinsame Lageanalyse gefehlt. Ohne gemeinsame Lagebeurteilung könne keine Einigkeit bestehen über die daraus abzuleitenden Schritte. Aber eines sei klar: „Entweder schafft es Europa, zu einem globalen Machtfaktor zu werden, oder es wird marginalisiert. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht “, zeigte sich Staack überzeugt.

Die Diskussion muss in der Öffentlichkeit geführt werden

Der Grund für die mangelnde Strategiefähigkeit sei auch darin zu finden, dass die EU sich in einer Zeit tiefsten Friedens zu einer Großmacht entwickelt habe. Dadurch habe sie heute an ihrer Peripherie die Konflikte einer Großmacht zu bewältigen. Aber sie habe weder die Macht noch den Willen, wie eine Großmacht zu handeln.
Es sei auch ein Fehler, dass der Diskurs über die Ausrichtung der EU vor allem von Eliten in „im stillen Kämmerlein“ geführt werde. Wenn man Akzeptanz erreichen wolle, müsse die Diskussion in der Öffentlichkeit geführt und die Bevölkerung einbezogen werden. Die Verhandlungen zu TTIP seien hier ein Negativbeispiel.
Reinhardt sieht die Welt derzeit in der gefährlichsten Lage seit Ende des Kalten Krieges. Er unterstrich die Notwendigkeit glaubwürdiger militärischer Fähigkeiten und ging u.a. auch auf die dazu notwendigen rüstungspolitischen Aspekte ein.
Generalleutnant Dieter Warnecke, Abteilungsleiter Strategie und Einsatz im Bundesministerium der Verteidigung, empfahl in seinem abschließenden Vortrag zum Thema „Künftiger Auftrag, Struktur und Aufgaben der Bundeswehr“ eine Trendwende bei der militärischen Integration in Europa und betonte vor allem die Notwendigkeit verbesserter Abstimmung zwischen der Streitkräften der Nationen. Hierzu ging er auch auf Beispiele für tiefergehende Integration ein und nannte insbesondere das deutsch-niederländische Korps. Ergänzend erwähnte er ebenfalls die maßgeblich von Deutschland initiierten Ansätze und unterstützten praktischen Beispiele für multinationale Zusammenarbeit im Rahmen des Bündnisses.

Auch wenn in den Diskussionen viele skeptische Töne zu hören gewesen seien, gelte es, den Blick nach vorne zu richten und den Protagonisten einer nationalen Rückorientierung in Europa entgegenzuwirken, so der Präsident der Clausewitz-Gesellschaft e.V., Kurt Herrmann, in seinem Schlusswort.

Werner Baach
Wolfgang Fett