“Die NATO-Russland-Beziehungen” – RK West am 06. 03. 2017

Das Verhältnis der NATO und der EU zu Russland war seit der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 und der russischen Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine sowie der dadurch grundlegend veränderten Sicherheitslage in Europa mehrfach Thema im RK West. Auch nach drei Jahren ist es nach wie vor hochaktuell und schien der erneuten Betrachtung wert.

Generalleutnant a.D. Dipl.-Inform. Kurt Herrmann, Präsident der Clausewitz-Gesellschaft, hat in seinem Vortrag unter dem Thema „Die NATO-Russland-Beziehungen: Ein für Europas Sicherheit wichtiges und schwieriges Verhältnis“ – gestützt auf seine Erfahrungen als ehemaliger Leiter der Militärischen Verbindungsmission der NATO (MLM) in Russland – die Entwicklung der Beziehungen zwischen der NATO und Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten beleuchtet und mögliche Perspektiven für die Zukunft betrachtet.

Ausgehend von der Londoner Erklärung und der Charta von Paris aus dem Jahr 1990 zeigte er auf, wie sich 1992 bzw. 1994 der Nordatlantische Kooperationsrat und das NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ entwickelten, mit dem Ziel, Plattformen für eine gedeihliche Zusammenarbeit mit Russland und weiteren 21 europäischen und asiatischen Staaten nach der sicherheitspolitischen Wende zu schaffen. Mit der Grundakte von Paris über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation wurde im Jahr 1997 eine Russische Mission beim NATO Hauptquartier in Brüssel vereinbart, und Russland erhielt einen Sitz im sog. Ständigen Gemeinsamen Rat, damals im Format 19+1. Nach einer vorübergehenden Abkühlung der Beziehungen aufgrund des NATO-Lufteinsatzes gegen Serbien im Jahr 1999 wurde 2002 der NATO-Russland-Rat (NRR) gebildet und die NATO Military Liaison Mission in Moskau eröffnet.
General Herrmann stellte sodann ausführlich die vielfältigen Felder der Kooperation im Rahmen des NRR mit einer Vielzahl – wenngleich nicht immer sehr umfangreicher – gemeinsamer Aktivitäten vor, die von der Bekämpfung des Rauschgifthandels über die Unterstützung von ISAF in Afghanistan, dem Kampf gegen Terror und Piraterie bis hin zu gemeinsamen militärischen Operationen, z.B. bei der Suche und Rettung auf See, reichten. Mit Beispielen für die zahlreichen Programme zur Zusammenarbeit aus allen Teilstreitkräften verdeutlichte er den Umfang der Zusammenarbeit, der selbst vielen ehemaligen Soldaten nicht mehr vollumfänglich präsent war. Ab Ende 2006 habe allerdings das russische Interesse – auch infolge der Diskussionen um einen Raketenabwehrschirm in Europa – spürbar nachgelassen. Mit der russischen Intervention in Georgien wurden die formalen Treffen des NRR sogar ausgesetzt, ab 2010 allerdings wiederbelebt, bis es wegen der Annexion der Krim 2014 erneut zum Bruch kam. Die aktuelle Lage spiegele die tiefste Krise in den Beziehungen zu Russland seit 1990 wider. Während die NATO in den letzten beiden Gipfeltreffen in Wales und Warschau – beide bereits Gegenstand der Betrachtung im RK West – beschlossen habe, die Verteidigungsfähigkeit zu stärken sowie die Einsatzbereitschaft und Reaktionsfähigkeit zu erhöhen, an der Pariser Grundakte jedoch festzuhalten, setze Russland seine Machtdemonstrationen fort und führe Cyberangriffe sowie Desinformations- und Propagandaaktionen durch. Insgesamt sei die russische Politik stark von militärischem Denken, anti-westlicher Haltung, Großmachtnostalgie und der Instrumentalisierung alter Stereotype geprägt. Damit wolle Putin offenbar von inneren Problemen ablenken, die Bevölkerung in seinem Sinn mobilisieren sowie autoritäre Maßnahmen gegen Demokratisierung und Liberalisierung rechtfertigen. Außenpolitisch solle durch die schwelenden Konflikte eine Westbindung weiterer Staaten der ehem. Sowjetunion verhindert und die verlorene Einflusssphäre rückgewonnen werden.
Tatsächlich bedeute das gewaltsame Vorgehen gegen die Ukraine mit der Verletzung der zuvor vertraglich zugesicherten territorialen Integrität und der Verweigerung des Rechts auf freie Bündniswahl einen Paradigmenwechsel für die europäische Sicherheit. Was das künftige Verhältnis der NATO zu Russland angehe, rate er dennoch zu Geduld mit Russland, allerdings ohne falsche Nachsicht. Die NATO solle im Sinne der Harmel-Philosophie weiterhin auf Verteidigung und Entspannung setzen. Festigkeit in der Abschreckung und Dialogbereitschaft müssten sich ergänzen. Von Russland müsse man erwarten, dass es sein klischeehaftes Bild von der westlichen Politik korrigiere, sich auf seine wahre Gefährdungslage rückbesinne, Verständnis für die Befürchtungen seiner Nachbarländer zeige und deren Souveränität und territoriale Integrität anerkenne. Dazu müssten destabilisierende Aktivitäten eingestellt und das „Nullsummendenken“ überwunden werden.
Die Nato demgegenüber solle darauf verzichten, Russland zu isolieren und ein gewisses Verständnis für die russische politische Psychologie entwickeln, auch wenn man deren Rational nicht teile. Vielmehr könne man Win-Win-Situationen auf Feldern gemeinsamer Interessen ausloten. Der NRR sei das geeignete Gremium, um die Zusammenarbeit wieder zu intensivieren.
In der intensiven Aussprache der gut besuchten Veranstaltung wurden – wie nicht anders zu erwarten – unterschiedliche Positionen deutlich: Auf der einen Seite die Forderung nach stärkerem Eingehen auf russische Befindlichkeiten und Interessen, auf der anderen die Einschätzung, dass die expansive und stabilitätsgefährdende russische Politik nur durch ein klares Gegenhalten eingedämmt werden könne. Diese unterschiedlichen Bewertungen ließen sich letztlich nicht auflösen. Beeindruckend war das hohe Maß an Expertise unter den Teilnehmern, von denen etliche in der Zusammenarbeit von NATO und Russland selbst eine tragende Rolle gespielt hatten. In jedem Fall war die Veranstaltung von hohem Erkenntnisgewinn für alle Beteiligten.

In seiner Begrüßung hatte der Leiter des RK West dem anwesenden Mitglied Staatssekretär a.D. Prof. Dr. Lothar Rühl zu seinem 90. Geburtstag vor wenigen Wochen gratuliert.

Jürgen Ruwe, Generalleutnant a.D.