Besprechung des Buches von Gerhard P. Groß, “Mythos und Wirklichkeit, Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d. Ä. bis Heusinger”

Anders als der Titel der Arbeit von Oberst Dr. Groß, Historiker am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, erwarten lässt, werden in ihr auch mehr als 20 Jahre Geschichte der Bundeswehr berührt. Sie geht damit über das Wirken von General Heusinger hinaus. Auch Entwicklungen bis in unsere Zeit hinein werden splitterhaft behandelt. Weil aber Oberst Dr. Groß sein Thema ausschließlich aus der deutschen Sicht darstellt, wird der Einfluss deutscher Offiziere in den NATO- Stäben im Bereich des operativen Denkens, Planens und Übens übergangen. Das ist der schwerwiegendste Mangel der Arbeit.

General Heusinger, der erste Generalinspekteur der Bundeswehr von 1957 bis 1961 und danach bis 1961 Vorsitzender des Ständigen Militärausschusses der NATO, wurde zunächst von den Verbündeten nur zögerlich über die nuklearen Planungen zur Verteidigung Westeuropas unterrichtet und entwickelte Verteidigungsplanungen auf der Grundlage konventioneller Kräfte. Damit scheiterte er, wie der Autor zu Recht festgestellt hat. Er befürchtete die Verwüstung Deutschlands mit Nuklearwaffen, erkannte aber früh, dass diese dem politischen Spektrum zuzuordnen waren. Mit den Konsequenzen der Strategie der Massiven Vergeltung der NATO („Massive Retaliation“), die der Strategie der Flexiblen Antwort („ Flexible Response“) vorausging, ist er nur schwer fertig geworden.

Die deutschen Oberbefehlshaber (CINCENTs) der Zentralregion (CENTRAL REGION) – sie reichte von Hamburg bis zu den Alpen – ,die seit 1966 für die Verteidigung dieses Raumes der größten Truppenkonzentration im Kalten Krieg mit zwei Heeresgruppen und zwei taktischen Luftflotten sowie Reserven aus USA und Kanada sowie Frankreich zuständig waren, und ihre deutschen Generalstabsoffiziere, „Führergehilfen“ und nicht „Führungsgehilfen“ wie der Autor sie bezeichnet, konnten nach Heusinger jedoch mit Erfolg bis zum Ende des Kalten Krieges deutsches operatives Denken in die Verteidigungsplanungen und ihr Üben einbringen. Diesen Sachverhalt hat der Autor nicht behandelt. Sie sind in den “NATO Top Secret“ „General Defense Plan“ ( GDP) für die CENTRAL REGION eingeflossen und von in den ihnen unterstehenden deutschen und alliierten Truppen für deren Ebenen umgesetzt worden. In Truppenübungen der Bundeswehr und der Verbündeten wurden sie ständig geübt, überprüft und verbessert. Die amerikanischen „Supreme Allied Commanders Europe“ (SACEUR) haben das operative Denken der deutschen CINCENTs und ihre Umsetzung in die Planungen für den Aufmarsch und für das Üben der Verteidigung im Falle eines Angriffs des Warschauer Paktes gefördert.
So wurde das operative Konzept der Vorneverteidigung der Strategie der „Flexiblen Antwort“ („Flexible Response“) für einen möglichst beweglichen Einsatzes der Kräfte im engen Raum des damaligen integrierten Dispositivs, für den Einsatz operativer Reserven sowie die Luftunterstützung immer wirkungsvoller nach Grundsätzen deutschen operativen Denkens bis zum Ende des Kalten Krieges ausgestaltet. General von Sandrart, Inspekteur des Heeres von 1984 bis 1987 und CINCENT von 1987 bis 1991, ließ 1988 seine für das Deutsche Heer 1987 erlassene „ Leitlinie für die operative Führung von Landstreitkräften in Mitteleuropa“ vom Februar 1987 in „Operational Principles For the Employment of Land and Air Forces in Defense of the Central Region (CINCENT´s Operational Principles“ ) umsetzen. Sie haben in den Bereichen der Operationsplanung und geplanten Operationsführung die letzten Jahre des Kalten Krieges professionell durch deutsches operatives Denken gekrönt. Sie wurden nie als Rezepte für Siege mit eigener Grammatik aufgefasst, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg die sogenannte Schlieffenschule in die Lehren des Generalfeldmarschalls hineininterpretiert hat, die man hätte befolgen müssen, um die Erste Marneschlacht vom September 1914 und den Krieg zu gewinnen.

Für die Bündnisverteidigung der NATO in unserer Zeit, wo immer sie notwendig werden sollte, in Europa, an den Flanken sowie in Krisengebieten, hat der Generalinspekteur von 1991 bis 1996 und danach „Chairman of the Military Committee“ von 1996 bis 1999, General Naumann, das strategische Konzept der militärstrategischen Gegenkonzentration für Krisenmanagement und bei dessen Scheitern freien Operationen in allen Gefechtsarten mit initiiert. Es ist aus Clausewitzens Auffassung von der Überlegenheit der strategischen Defensive abgeleitet, aus deren Dispositiv, falls seine Abschreckungs- und Krisenmanagementfunktion wirkungslos bleiben, freie Operationen in allen Gefechtsarten geführt werden sollen. Clausewitz bezeichnete sie als „blitzendes Schwert der Vergeltung“.

„Frühere Inspekteure des Heeres haben sich als herausragende operative Denker und Planer erwiesen“

Die Auffassung des Autors, die Elite der früheren Operateure sei in der Bundeswehr durch Militärpolitiker in ihrer dominierenden Stellung abgelöst worden und die Generalinspekteure und die Inspekteure des Heeres hätten mehr den Typ des Militärpolitikers verkörpert, eine Tatsache, die dem Mitwirken im Bündnis geschuldet sei, ist vor dem dargestellten Hintergrund unzutreffend. Die Generalinspekteure waren bis 2012 keine Oberbefehlshaber, die Inspekteure des Heeres jedoch kraft Amtes Operateure und operative Denker bei der Gestaltung der großen damaligen Heeresübungen auf der Grundlage der GDPs aller Ebenen. Sie waren in ihrer nationalen Verwendung für die Verteidigungsplanungen der drei deutschen Korps der CENTRAL REGION und des deutschen Territorialheeres in enger Verzahnung mit den verbündeten Truppen verantwortlich. In NATO- Verwendungen haben sich frühere Inspekteure des Heeres als herausragende operative Denker und Planer erwiesen.

Die Dienstvorschriftenreihe des Deutschen Heeres mit der Dachvorschrift HDv 100/100, „Truppenführung 2000“, und die „ Gedanken zur Operationsführung im Deutschen Heer“ von 1998 des damaligen Inspekteurs des Heeres, Generalleutnant Willmann, haben das Operieren im Rahmen der neuen Militärstrategischen Gegenkonzentration der NATO im Falle der Bündnisverteidigung neu akzentuiert.

General von Sandrart hatte die Operative Führung, noch bisherigem Verständnis folgend, an größere Truppenkörper gebunden. Sie ist in seiner Weisung und in der HDv 100/100 von 1987 so definiert worden. Der Inspekteur des Heeres von 1992 bis 1994 und danach CINCENT bis 2006, General Hansen, gab angesichts der neuen internationalen Krisenreaktionseinsätze der Bundeswehr mit ihren kleineren Truppenkörpern und ihrer engeren Anbindung an die politisch-strategische Ebene in seiner 1994 erlassenen „Vorläufigen Leitlinie für die operative Führung von Kräften des Heeres“ ihre Bindung an größere Truppenkörper auf und siedelte sie dort an, wo politische Vorgaben in operatives Handeln umgesetzt wird, unabhängig vom Umfang der jeweiligen Truppe. Sie ist in die HDv 100/ 900, Führungsbegriffe“, von 1998 und in die „Operative Leitlinie“ des Generalinspekteurs der Bundeswehr von 1999 aufgenommen und mit den Verbündeten und befreundeten Streitkräften abgestimmt worden. Sie gilt für die Bündnisverteidigung der NATO und für die internationalen Krisenreaktionseinsätze unserer Zeit. Die Renaissance des Wiederbelebens des operativen Denkens endete damit nicht, wie der Autor ausführt, in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Neuere Arbeiten über das operative Denken und seine Entwicklung seit 1987 hat er übergangen. Das ist eine weitere Schwäche seiner Arbeit.

Der Autor hat – das ist ein weiterer Mangel – seine Arbeit nicht an den aktuellen, in den Dienstvorschriften des Heeres und den angeführten Operativen Leitlinien definierten Begriffen zur Operativen Führung ausgerichtet. Stattdessen hat er das operative Denken und die Operative Führung umständlich und losgelöst von den offiziellen Definitionen von heute hergeleitet und definiert. Das erschwert die Leserfreundlichkeit seiner Arbeit und das Nachvollziehen seiner Gedankenführung.

Die deutschen Generale und Generalstabsoffiziere, die in Verwendungen in Deutschland und in der NATO deutsches operatives Denken in operative Planungen umzusetzen vermochten, das unter dem Dach und Primat der politisch- strategischen Ebene bei einem Angriff des Warschauer Paktes zum Tragen gekommen wäre, handelten aus professionellen Gründen und nicht, wie dies der vom Autor als Experten für deutsches operatives Denken herangezogene langjährige Sozialwissenschaftler an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, Dr. Martin Kutz, in seiner Agitation gegen die Wiederbelebung der operativen Führung durch General von Sandrart weis machen wollte, aus dem Antrieb, traditionalistische Wertevorstellungen zu revitalisieren und aus Schlieffenschen Denkmustern ewiggültige Handlungskonzepte zu destillieren. Dies losgelöst von der politisch-strategischen Ebene und ohne Berücksichtigung ökonomischer, sozialer und politischer Realitäten durch weiträumige Operationen, wie sie in den deutschen Armeen in den beiden Weltkriegen im Rahmen der angebeteten strategischen Offensive geführt wurden.

Weil der Autor keine Dienstvorschriften herangezogen hat, die nach 1987 erschienen sind, ist ihm entgangen, dass in der Reihe HDv 100/100 des Deutschen Heeres von 2000 die prekäre Lücke zwischen dem älteren Moltke und Clausewitz endgültig geschlossen wurde, dass im Krieg die Politik zu schweigen habe. Weiterhin, dass dort eine Absage an das sich nach Moltke entwickelte Dogma erteilt worden ist, die strategische Offensive sei der strategischen Defensive, wie sie Clausewitz dargestellt hat, und wie sie in der Militärstrategie der Gegenkonzentration der NATO verwirklicht ist, überlegen.

Heute gilt in Deutschland, bei den NATO-Verbündeten sowie befreundeten Streitkräften:

Die politisch-strategische Ebene erteilt den Auftrag zum Einsatz der Streitkräfte. Die militärstrategische Führung koordiniert den Einsatz der Kräfte, so dass die von der politisch- strategischen Ebene festgelegten Ziele erreicht werden. Die operative Führung entwickelt auf der Grundlage militärstrategischer Vorgaben ein operatives Konzept und setzt dieses in Weisungen und Befehle für die taktische Führung um. Es sei wiederholt: Entlang dieses Kompetenzen- und Aufgabengeflechts hätte der Autor seine Auffassungen darstellen sollen. Das wäre der Verständlichkeit seiner Arbeit zugute gekommen.

Der Autor, das durchzieht seine Arbeit wie ein roter Faden, hat sich leider von den Auffassungen und der unhaltbaren Kritik von Kutz an der Wiederbelebung des deutschen operativen Denkens nicht freizumachen vermocht. Sie wurzelt im untergegangenen utopischen, ideologischen und pädagogisch-moralisierenden Zeitalter, in dem die Schöpfer des operativen Denkens zwischen Scharnhorst und dem Grafen von Stauffenberg der römischen „Damnatio Memoriae“ verfallen sollten. Das mindert die Qualität der vorgebrachten Bewertungen für frühere Verhältnisse und Entwicklungen in unserer Zeit. Das ist eine weitere Schwäche seiner Arbeit.

„Dem Autor gelingen zutreffende Interpretationen, die bisherige Klischees vom Tisch fegen“

Dem Autor gelingen aber auch zutreffende, im Lichte neuer Dokumentenfunde begründete Interpretationen, die bisherige Klischees vom Tisch fegen: Bei der Darstellung der Roonschen Heeresreformen, bei seiner Bewertung der Schlieffen unterstellten Vorstellungen zur Führung eines zukünftigen Zweifrontenkrieges und bei der Kritik an der sogenannten Schlieffenschule und dem Reichsarchivwerk. Er stellt das Wirken des jüngeren Moltke gerechter dar als die Vertreter der Schlieffenschule, die diesem alle Schuld an der verlorenen Ersten Marneschlacht in die Schuhe schoben. Überzeugend behandelt der Autor divergierende Vorstellungen zwischen General der Infanterie von Seeckt und seinen Führergehilfen über den Ausbau der Reichswehr. Auch die Irrtümer des Chefs des Generalstabes des Heeres, Generaloberst Halder, im Vernichtungskrieg gegen Russland, vor allem von dessen zeitweilig geglaubten Erfolgsaussichten. Er kritisiert zutreffend Jehuda Wallachs überspitze Auffassung, Schlieffen habe ein regelrechtes „Dogma der Vernichtungsschlacht“ initiiert, das die Generalstabsoffiziere des Zweiten Weltkrieges geleitet habe.

Die Arbeit enthält eine Reihe von sachlichen Fehlern sowie Ungenauigkeiten. Einige werden im Folgenden behandelt:

Seit 1821 hatte in Preußen der Chef des Generalstabes die dienstliche Bezeichnung “Chef des Generalstabes der Armee“. Nicht die Generale der Kavallerie Graf von Waldersee und Graf von Schlieffen waren die ersten Chefs des Generalstabes der Armee, sondern der Generalleutnant von Müffling gen. Weiss. Der preußische Generalstab bestand im Frieden aus dem Großen Generalstab in Berlin, der Zentrale, und dem Truppengeneralstab mit den Generalstabsoffizieren bei den Armeekorps und Divisionen sowie den Festungen. Nach der Reichgründung nahm der preußische Generalstab die Funktion eines Reichsgeneralstabes wahr. Im Kriegsfall wurde der Chef des Generalstabes der Armee in seiner Funktion als erster Führergehilfe des Kaisers zum Chef des Generalstabes des Feldheeres, der Obersten Heeresleitung, der die gesamten Operationen des Feldheeres zu leiten hatte und mit dem Chef des Admiralstabes der Marine auf Zusammenarbeit angewiesen war. In Berlin verblieb im Kriegsfall der Stellvertretende Generalstab. In den Armeen, die erst im Kriegsfall aufgestellt wurden, und den später gebildeten Heeresgruppen wurden Offiziere des Truppengeneralstabes eingesetzt. Alle Generalstabsoffiziere unterstanden im Frieden und im Krieg dem Chef des Generalstabes der Armee, bzw. dem Chef des Generalstabes des Feldheeres.

Den in den illustrierenden Bildern der Arbeit aufgeführten Generalen hätte der Autor die Dienstgrade beifügen sollen, die sie im beschriebenen Amt hatte. Clausewitz war nicht General, sondern Generalmajor, damals der erste Generalsdienstgrad; von Rheyer General der Kavallerie, Schlieffen wurde erst nach seinem Ausscheiden aus dem Amt Generaloberst und Generalfeldmarschall.

Auch die Behauptung des Autors, der Generalstab habe vor dem Ersten Weltkrieg keinen Einfluss auf personelle und materielle Ressourcen genommen und gehabt, weil dies Aufgabe von Militärkabinett und Kriegsministerium gewesen sei, ist unzutreffend. Richtig ist vielmehr, dass Schlieffen als Chef des Generalstabes der Armee und sein Nachfolger, Generaloberst von Moltke, in oftmals spannungsreicher Zusammenarbeit mit dem Kriegsministerium das Reichsheer zur Kriegsfertigkeit vorbereiteten, durch die Einführung von Maschinengewehren, Flugzeugen, der Nutzung von Kraftfahrzeugen und der Telegrafie, durch die Einführung moderner Rohrrücklaufgeschütze und der Schaffung einer schweren Artillerie des Feldheeres, durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes, moderne Dienstvorschriften und Truppenführerreisen. Die Feststellung des Autors, im Gegensatz zum Kaiserreich sei es dem Generalstab der Wehrmacht gelungen, die Rüstung aufgrund operativer Vorgaben zu steuern, ist daher nicht zutreffend.

Im Kaiserreich war das Miteinander von Generalstab, Kriegsministerium und Militärkabinett unter der Oberleitung des Kaisers viel weniger hierarchisch, ressortbeschränkt- und ausgerichtet, als der Autor dies dargestellt hat. Im Generalstab wollte Kaiser Wilhelm II. keine hierarchischen Verhältnisse der Offiziere untereinander. Die persönlichen Beziehungen der Chefs der drei Organisationen zum Kaiser – z.B. längere Zeit ein freundschaftliches Verhältnis von Waldersee zu ihm – waren die wirklichen Bestimmungsgrößen über ihren tatsächlichen Einfluss. Der Nimbus von Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke, dem Sieger der Schlachten von Königgrätz und im Deutsch- Französischen Krieg, räumte dem Generalstab nach Ansehen und Einfluss die führende Rolle vor dem Kriegsministerium ein.

„Die Führergehilfen hatten ihre unmittelbaren Vorgesetzten zu beraten“

Der Autor lässt an manchen Stellen den Eindruck entstehen, in der Preußischen Armee und dann im Deutschen Reichsheer hätten vor allem die Generalstabsoffiziere bei den Kommandobehörden das Sagen gehabt, und es hätte keine Kommandierenden Generale oder im Krieg Oberbefehlshaber der Armeen und Heeresgruppen gegeben, deren Führergehilfen sie waren. Die Truppenführer fassten nach Beratung durch ihre Generalstabsoffiziere im Rahmen des Führungsprozesses einer geordneten Stabsarbeit ihre Entschlüsse und führten ihre Truppen. Gewiss, im Ersten Weltkrieg entwickelte sich eine „Chefwirtschaft“ unter General der Infanterie Ludendorff, der als Erster Generalquartiermeister ab 1916 Chefs der Generalstäbe der Großverbände häufig ohne Rücksprache mit den ihnen vorgesetzten Kommandierenden Generalen sowie Oberbefehlshabern ablöste und austauschte. Dieser Verfahren wurde nach dem Ersten Weltkrieg ausdrücklich abgelehnt und im Handbuch für den Generalstabsdienst im Kriege von 1939 angeordnet, dass die Führergehilfen ihre unmittelbaren Vorgesetzten zu beraten hatten und nicht mehr wie bisher für ihre Führerentschlüsse Mitverantwortung trugen.

Auch der Sachverhalt, dass deutsche Dienstvorschriften – aus Clausewitzens Erkenntnissen und Forderungen abgeleitet – im Gegensatz zur Jominischule keine Einzelheiten für die Durchführung von Operationen, sondern nur Grundsätze enthalten sollen, die in einem ständig verlaufenden Führungsprozess – nicht „Führungsvorgang“, wie der Autor sagt – mittels des Prinzips „Führen mit Auftrag“ in Schlacht und Gefecht von diesem umgesetzt werden, wird nicht deutlich genug herausgearbeitet. Die Behauptung des Autors, der Führungsprozess beginne mit der Beurteilung des Geländes, ist unzutreffend. Er beginnt seit dem älteren Moltke mit der Auswertung des Auftrags und Beurteilung der Feindlage. Dessen Erkenntnis, kein Operationsplan reiche über den ersten Schuss hinaus, verbot vorausdisponierende, detaillierte Anweisungen für das Führen von Schlacht und Gefecht nach abgeschlossenem Aufmarsch, die ein freies, lagegerechtes Operieren verhindern würden. In anderen Armeen, die stärker als die Deutschen unter dem Einfluss von Jomini standen, war dies lange anders.

Das wussten und befolgten im Kalten Krieg auch die CINCENTs und die ihnen nachgeordneten deutschen und verbündeten Truppenführer der CENTRAL REGION. Die „Architektur“ ihrer GDPs trugen dieser Erkenntnis, die sich in der preußisch deutschen Militärkultur entwickelt hatte, Rechnung. Operative Führung konnte und wollte vor diesem Hintergrund nie fehlende politische Oberleitung ersetzen, weder im Kalten Krieg, beim Aufmarsch in ein multinational verflochtenes Dispositiv der militärstrategischen Gegenkonzentration der NATO von heute und dem freien Operieren aus ihm heraus oder in den internationalen Krisenreaktionseinsätzen unserer Zeit. Allerdings haben zahlreiche unprofessionelle und verbohrte Angehörige der Schlieffenschule nach dem Ersten Weltkrieg solche Auffassungen vertreten.

Ist es vor diesem Hintergrund wirklich zutreffend, dass, wie der Autor feststellt, die deutsche Militärelite in der Vergangenheit und auch heute noch über keinen Strategiebegriff verfügt habe und verfüge, der durch den Primat der Politik bestimmt war und bestimmt ist? Hat diese Auffassung des Autors ihre Wurzeln in der von Kutz vermuteten Gefahr einer Verselbstständigung des deutschen operativen Denkens und der daraus abgeleiteten Operativen Führung und eines angenommenen Drangs ihrer Vertreter, sich der Oberleitung der politisch- strategischen Ebene entziehen zu wollen? Hitler vereinte in seiner Hand wie nie zuvor in Deutschland die politische und militärische Leitung. Der Generalstab des Heeres hatte seine politisch- strategischen und militärstrategischen, in vielen Fällen auch taktischen Vorgaben in operative Weisungen umzusetzen und hatte keinen Einfluss auf die Bereitstellung adäquater Mittel und Kräfte. Er hatte ganz einfach zu gehorchen.

„Planen und Handeln hatten nie mythologische Züge“

Deutsches operatives Denken, das in der deutschen Militärkultur in Armeen der Vergangenheit und in der Bundeswehr entwickelt wurde und im multinationalen Miteinander mit unseren Verbündeten weiter ausgestaltet werden konnte, ist von deutschen Offizieren erfolgreich in das Bündnis der NATO eingebracht worden. Dies im Kalten Krieg, in unserer Zeit bei der Bündnisverteidigung im Rahmen der Militärstrategischen Gegenkonzentration und auch bei internationalen Krisenreaktionseinsätzen. Es entfaltet sich unter einem wirkungsmächtigen, funktionierenden politisch- strategischen Dach von verbündeten Rechtsstaaten. Seine maßgeblich im preußisch- deutschen Generalstabssystem entwickelten Arbeitsmethoden und die Umsetzung seiner Planungen mittels des Prinzips „Führen mit Auftrag“ durch Führungskunst war schon immer eine beinharte professionelle Herausforderung an deutsche Truppenführer und Generalstabsoffiziere. Operatives Denken, Planen und Handeln hatte daher für Fachleute nie mythologische Züge wie der Buchtitel suggeriert.

Diese Linien hätten in der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet und deutlicher werden müssen. Das ist dem Autor noch nicht gelungen. Die Arbeit behandelt das Thema, das sich der Autor gestellt hat, im Detail bis zum Jahre 1987 aus deutscher Sicht. Er unterschlägt damit den Sachverhalt, dass damals bereits deutsches operatives Denken, Planen und Führen im NATO- Bündnis zum Tragen gekommen war. Die Zeit danach bis heute behandelt er nur splitterhaft. Manche Interpretationen des Autors sind angreifbar und auch fehlerhaft. Damit ist die Arbeit in der vorgelegten Form für den Bereich des deutschen operativen Denkens in der Vergangenheit und Gegenwart bedauerlicherweise ein Torso geblieben. Dennoch ist sie lesenswert und regt zum Nachdenken an. Die Arbeit von Oberst Dr. Groß verdient, unter Hinzuziehung von professionellem Rat durch Generalstabsoffiziere, die sich in der Geschichte des preußisch- deutschen Generalstabssystems, seines Wirkens in der heutigen Bundeswehr und der Verhältnisse bei den verbündeten Armeen auskennen, überarbeitet und ergänzt zu werden. Die wissenschaftliche Behandlung des Themas ist überfällig und für das Selbstverständnis heutiger Offiziere wichtig.

Gerhard P. Groß
“Mythos und Wirklichkeit, Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d. Ä. bis Heusinger”
Ferdinand Schöningh 2012, Paderborn. München. Wien. Zürich, Euro 39,90.