Abschreckung und Abrüstung nach Ende des INF-Vertrags – Innere Kohäsion der Allianz wichtiger als das Schließen der nuklearen Lücke?

 Zusammenfassung

Die fortdauernde Gestaltung einer starken NATO in einer Welt mit Nuklearwaffen ist erforderlich sowohl für eine wirksame Abschreckung als auch eine nachhaltige Politik der Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen. Denn ohne die Allianz kann in der heutigen machtpolitischen Wirklichkeit eine Proliferation der Nuklearwaffen auch unter den Mitgliedstaaten durchaus als überlebenswichtig beurteilt werden.

Um Russland von der Nutzung seines nuklearen Mittelstreckenpotentials zu Einschüchterung, Erpressung oder Bedrohung abzuhalten, werden rein defensive und ausschließlich konventionelle Maßnahmen nicht ausreichen. Zur Zeit ist völlig unklar, ob und v.a wie die NATO die nukleare Lücke durch das Verhalten Russlands in einer Weise schließen wird, die auch künftig eine “erweiterte Abschreckung” durch das Potential der USA für Europa gewährleisten kann.

Die Forderung und Absicht der Allianz zu verstärkter Rüstungskontrolle und Anrüstung muss die Tatsache im Blick haben, dass ein Staat, der einen eklatanten Vorteil in nuklearen Waffen- und Einsatzkategorien besitzt, diesen nicht allein durch gutes Zureden vermindern oder gar aufgeben wird. Zur Zeit ist Skepsis angebracht, ob die NATO bis zum Gipfel im Dezember in London im komplizierten nuklearen Gefüge eine tragfähige Antwort für wirksame und glaubwürdige Abschreckung einerseits sowie einen realistischen Ansatz für beiderseits vorteilhafte Rüstungskontroll- und Abrüstungsgespräche andererseits erarbeiten kann.

Analyse

Wer wie Gregor Schöllgen, deutscher Historiker und Publizist, den 2. August zum Anlass nimmt, die NATO als nicht mehr nötig zu bezeichnen, hat keine Antenne für die politische Dimension möglicher Einschüchterung und Erpressung mittels der nuklearen Komponente.

Liest man andererseits die teils dramatischen Kommentare zu den Auswirkungen des beendeten INF-Vertrags erhebt sich die Frage, warum denn nicht die seit Jahren vor sich gehende russische Rüstung von nuklearen und konventionellen landgestützten Raketen/Marschflugkörpern gegen das INF-Regime bereits ebenso dramatisch eingeschätzt wurde. Dies ist umso unverständlicher als die offensive russische Nuklear-Strategie Einsätze von solchen Raketen in begrenzten Konflikten vorsah und vorsieht.

Die NATO und ihre Mitgliedstaaten (MS) waren also seit Jahren mit einer Lage im Bereich taktisch-operativer nuklearer Bewaffnung konfrontiert, der sie sich hätte stellen müssen. Dass die NATO zu klaren, weitreichenden Schritten zum Ausgleich des Nachteils durch die nukleare Lücke auch jetzt nicht fähig und willens ist, lässt sich an der Sprache der Erklärung des Nordatlantikrates und der Aussagen von GenSek Jens Stoltenberg vor der Presse am 2. August ablesen. Schon seit Monaten verkündet die NATO, was man nicht machen will: die Stationierung landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen oder Marschflugkörper in Europa. Das gibt Putin freie Hand, sein Einschüchterungs- und Erpressungspotential mittels weiterer INF-Raketen gegen Staaten in Europa nach eigener Entscheidung zu stärken. Und für den Fall einer Änderung der NATO-Haltung hat er schon vorgebaut und angekündigt, dann solche Waffensysteme in der amerikanischen Hemisphäre zu stationieren. Kuba und Venezuela werden dabei genannt. Die Absage der NATO an eine landgestützte Option ist der fehlenden Einigkeit über eine solche Maßnahme geschuldet und nicht überzeugendes Ergebnis einer sachlichen und strategischen Analyse für das Schließen einer erheblichen Lücke der „erweiterten Abschreckung“ der USA für NATO-Europa.

Die bisherigen Hinweise der NATO für eine „glaubwürdige, moderne Abschreckung“ durch erhöhte konventionelle Einsatzbereitschaft, häufigere Übungen und die Stärkung der Luft- und Raketenabwehr mögen vielleicht eine notwendige Selbstvergewisserung (reassurance) v.a. der östlichen MS bewirken. Solche Maßnahmen haben aber für sich keine abhaltende Wirkung auf Moskau mit dessen erklärter offensiver Nuklear-Strategie, zumal eine 100-prozentige Raketenabwehr unrealistisch bleibt.

Um bei Putin nicht den Eindruck zu verstärken, er könne mit seinen taktisch-operativen Vorteilen eine Abkopplung der USA vom Schirm der „erweiterten (nuklearen) Abschreckung“ herbeiführen, bedarf es einer klaren offensiven Komponente. Diese muss die Fähigkeit und die Kapazität besitzen, Russland klar zu machen, dass jede Einschüchterung, Drohung oder Erpressung mit diesen nuklearen Systemen gegen die NATO und einzelne MS wirksam mit einem für Russland essentiellen Schaden unterhalb der Schwelle strategischer Nuklearwaffen ausgehebelt werden kann und wird.

Es ist durchaus fraglich, ja fragwürdig, ob dieser Abschreckungseffekt allein mit see- und luftgestützten nuklearen Raketen und Marschflugkörpern mittlerer Reichweite erreicht werden kann. Denn diese stehen keineswegs permanent für derartige Szenarien zur Verfügung. Damit ist auch ihr „Reassurance-Aspekt“ durchaus begrenzt.

Die USA erkennen, dass eine offensive Komponente ausreichender Kapazität und technologischer Innovation notwendig ist, um durch Gewährleisten einer proportionalen Antwort auf jeder Ebene eines politisch-militärischen Konflikts nicht vor der Frage zu stehen: Kapitulation oder weitreichende Eskalation. Das wird durch die Ankündigung des neuen amerikanischen Verteidigungsministers Mark Esper unterstrichen, möglichst rasch verschiedene konventionelle landgestützte Raketen in Asien und im Pazifik zu stationieren. Dies zielt v.a. auf einen Ausgleich für die steigende Zahl von Mittelstreckenraketen in China, aber auch in Indien oder Pakistan, von Nordkorea ganz zu schweigen.

Wenn die Staaten der Allianz von neuen Rüstungskontroll- oder Abrüstungs­initiativen – sei es bilateral oder im multilateralen Umfeld – sprechen, bleibt die Tatsache, dass ein Staat der einen eklatanten Vorteil in Waffen- und Einsatzkategorien besitzt, diesen nicht allein durch gutes Zureden vermindern oder gar aufgeben wird.

Nur da, wo für alle erkennbar ist, dass der eine den anderen nicht mit alleinigem Potential einschüchtern oder erpressen kann, können die Motive zu Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung steigen je nach der Einschätzung eines Erfolges in neuer Waffentechnologie und der damit verbundenen immensen Kosten. Wenn diese Motive in beiden Teilen annähernd gleich stark sind, so könnten sie sich in der Mitte ihrer politischen Differenzen treffen. Was sie in dem einen Bereich an Stärke zunehmen, dürfen sie in einem anderen schwächer sein. Wenn ihre Summe nur hinreicht, so können Verhandlungen erfolgreich sein. Natürlich werden sie im Ergebnis mehr zum Besten dessen ausfallen, der die schwächsten Motive dazu hatte.

Dass die NATO und ihre MS bis zum Gipfel im Dezember 2019 in London – aus Anlass des 70 jährigen Bestehens der Allianz – gemeinsam eine überzeugende Antwort für eine wirksame und glaubwürdige Abschreckung einerseits und einen realistischen Ansatz für beiderseits vorteilhafte Rüstungskontroll- oder gar Abrüstungsgespräche andererseits vorstellen werden, muss nach den bisher vorliegenden Dokumenten und Stellungnahmen mit einiger Skepsis eingeschätzt werden.

Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen war von 2006 bis 2013 Präsident der Clausewitz-Gesellschaft. Zuvor war er Deutscher Militärischer Vertreter im Militärausschuss der NATO, bei der WEU und EU, HQ NATO, Brüssel.